Grün-As

Siedlung Grünau - vorgestern, gestern, heute

Auf dem Tisch stand schon wieder die Flasche Penecillinsaft. Ich hatte sie noch schnell vor Ladenschluß aus der Apotheke geholt, um Andrea’s erneute Bronchitis nach ärztlicher Verordnung zu kurieren. In der vergangenen Nacht hatten wir alle nur unruhig geschlafen. Der quälende Husten des Kindes ließ uns nicht zur Ruhe kommen. Hier im Bornaer Braunkohlenrevier war das kein Einzelfall. Dicker Braunkohlendreck, den die Schornsteine der Brikettfabriken in die Luft schleuderten, verdunkelte selbst an sonnigen Tagen den Himmel. Die umliegenden Schwelereien in Espenhain und Böhlen schickten schweflig gelbe, nach faulen Eiern riechende, Schwaden übers Land. Wer mit dem Auto durch diese Gegend fuhr, hielt sich angewiedert die Nase zu. Für uns war es das Alltägliche, fast Gewohnte. Die Landschaft war von Tagebauen zerstört, Wälder waren abgeholzt, Fluren weggebaggert. Wie soll hier ein Kind gesund aufwachsen, Menschen unbeschadet leben können?

Unsere Arbeitsplätze, pflegebedürftige Angehörige, eine endlich nach langen Warten bezogene eigene Wohnung, hielten uns im Industriegebiet dennoch fest. Aber ein Ausweg mußte gefunden werden! Ein Garten, nicht zu weit entfernt, aber in gesünderer Umgebung, schien uns die Lösung unseres Problems. Anfang der sechziger Jahr suchten wir diesen Garten auf Anraten unserer Verwandten am Stadtrat von Leipzig. Mit der Linie 1 fuhren wir bis zur Endstelle nach Meyersdorf. War das nicht der äußerste Stadtrand von Leipzig? Wer kannte damals schon Grünau! Das lag doch bei Berlin. Anwohner aus den Meyerischen Häusern zeigten uns den Weg zur Siedlung Grünau. Wir liefen an der Bahnlinie Plagwitz-Pörsten entlang, auf dem Lausener Weg. Plötzlich ein Fauchen und Stampfen. Eine Dampflok zog mehrere vollbesetzte Wagen, einer davon »Für Reisende mit Traglasten«. Einige Reisende winkten uns zu.

Siedlungsgrundstück reihte sich an Siedlungsgrundstück. Oft waren es wahre Obstplantagen mit Apfel-, Birnen- oder Sauerkirschbäumen. In fast jedem Garten scharrten Hühner, watschelten Enten oder Gänse, und manches Taubenhaus kündete von seinen Bewohnern. Verborgen zwischen den Bäumen standen manchmal sehr kleine bescheidene Häuschen der Siedler. Uns schien es eine Idylle im Grünen, eine grüne Aue, dieses Grünau. Wir hatten Glück, ein alter Siedler, der vielen Arbeit auf seinem Grundstück nicht mehr gewachsen, verkaufte uns einen Teil seines Anwesens. Wir bauten eines der ersten Wochenendgrundstücke auf dem Lausener Weg. Eigentlich waren wir Eindringlinge, ein Fremdkörper unter den alten Siedlern, etwas mißtrauisch beobachtet von ihnen.

Nach und nach entstanden weitere Kontakte, gab es häufiger Gespräche über den Gartenzaun. Zum Einkauf gingen wir in den Siedlungskonsum auf der Windsheimer Straße. Es war der Treffpunkt der Siedler. In seinem Klubraum versammelten sich die Tierzüchter, um ihre Erfahrungen auszutauschen, spielten Männer Skat und Frauen Doppelkopf, berieten die Vorstandsmitglieder Siedlerfragen. An einem Wochenende im Herbst wurden wir zum Siedlerfest eingeladen. Man verstand zu feiern bei den Siedlern in Grünau. Auf der Festwiese in der Windsheimer Straße stand ein großes Festzelt. Preisgekrönte Tiere der Züchter und wohlgeratene Früchte aus den Gärten wurden stolz zur Schau gestellt. Musikanten unterhielten die Festgäste. Manche Überraschung gab es für die Kinder bei der Tombola, einem Puppentheater und bei Lampionumzügen. Es war eine frohe Gemeinschaft, in die wir uns integriert fühlten.

Wie abgelegen die Grünauer damals wohnten, läßt sich heute nur noch erahnen, wenn man bedenkt, dass es weder die Straßenbahnanschlüsse auf der Ratzelstraße, noch die zwei Eisenbahnhaltepunkte auf dem Lausener Weg gab. Und wer besaß damals schon ein Auto! So fuhren die Grünauer Siedler mit dem Fahrrad bis zur Endstelle der »Eins« nach Meyersdorf und von dort mit der Straßenbahn stadteinwärts. Wo heute der Taxistand ist, standen einst lange Reihen von Fahrradständern, in denen die Grünauer ihre Stahlrösser parkten. Eine Attraktion für uns Städter war der Milchmann, der jeden Sonnabend sein Kommen mit lautem Hupen ankündigte. Dann eilten die Siedler mit Kannen und Krügen zum Gartentor, um frische Milch und Molkereiwaren aus dem Lieferauto einzukaufen.

Im Laufe der Jahre zog es immer mehr Städter ins Grüne, wo sie sich eine feste Bleibe, eine Datsche schufen. Zwei Haltepunkte auf dem Lausener Weg ermöglichten die Anreise mit dem Zug. Das Bild der Siedlung wandelte sich. Die Obstbäume mußten Koniferen, Birken und Ziergehölzen weichen. Wo einst Kleinvieh die Gärten belebten, wurden tiefe Gruben für Swimmingpools ausgeschachtet, Hollywoodschaukeln aufgestellt. Es gab viele Bauwillige, aber nur wenigen gelang es in diesen Jahren, eine Baugenehmigung für ein Eigenheim zu erkämpfen. Wir zählten zu den Glücklichen, wurden nun Siedler mit ständigen Wohnsitz in Grünau.

Ende der siebziger Jahre war Grünau bei den Leipzigern plötzlich in aller Munde. Keiner meinte damit etwa die Siedlung Grünau. Eine kolossale Plattensiedlung entstand in einer für damalige Verhältnisse unglaublich kurzen Zeit. Die hier ansässigen Neu-Grünauer wurden von uns argwöhnisch wahrgenommen, wenn sie an den Wochenende oder nach Feierabend aus dem Beton in unsere Siedlung flüchteten und sich hier im Grünen erholen wollten. Schließlich gewöhnten wir uns daran und nutzten die Vorteile, einen nahen Anschluß an die Straßenbahn zu haben, die Kaufhallen und Geschäfte mit ihnen beim Einkauf zu teilen. Wir fanden uns nach und nach damit ab, dass eine dicke Rohrleitung für die Wärmeversorgung der Grünauer Neubauten, statt unter über der Erde verlegt wurde und die Natur verunzierte, dass am Lausener Weg neben den vollbesetzten Arbeiterzügen, die längst nicht mehr von Dampfloks gezogen wurden, während der Heizperiode Tag und Nacht die Kohlezüge vorbeidonnerten. Doch was war das schon, verglichen mit den Veränderungen, die nach 1990 einsetzten.

Auf den einstigen Spazierwegen der Grünauer brausten heute die Klein-, Mittel- und Luxusklassewagen dahin. Gebotschilder mit Hinweisen auf Geschwindigkeitsbegrenzungen stören, wenn so viele PS ungenutzt unter der Haube schlummern, also werden sie ein für allemal umgefahren. Siedler auf der Straße werden mit kräftigem Hupen darauf aufmerksam gemacht, dass sich sich an die Zäune zu drücken haben. Viele seien sowieso schon recht betagt und sollten lieber zu Hause bleiben! Nur der Zugverkehr ist jetzt ziemlich ruhig geworden. Die Arbeiterzüge von einst fahren nur noch mit einem Wagen; es gibt keine Arbeitsplätze mehr in Plagwitz, und für die Ausflügler reicht ein Wagen allemal. In den unbefestigten Wegen der Siedlung klaffen tiefe Wunden, verursacht von tonnenschweren LKW's, die hindurchrollen. Meist sind sie mit Erde von Ausschachtungen der Baugruben und mit Baumaterial beladen. Manchmal transportieren sie auch ganze Fertighäuser, die es nur noch mit einem großen schweren Kran aufzustellen gilt. Die anfangs beschriebenen Gartengrundstücke werden jetzt mehrfach geteilt, bebaut mit sehr sauberen weißen Musterhäusern und bepflastert. Ein paar Blumenschalen erinnern noch zaghaft an Natur. Die Luft ist besser geworden. Es wird wieder gesiedelt in Grünau. Diesmal hochmodern.

Sigrid Bornmann, Gruppe Schreibende Seniorinnen, Altenkultur e.V.
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