Kindergespräch in der Straßenbahn
Die Wagenschlüssel, wo sind die Wagenschlüssel? Nochmals sehe ich zur Garderobe, der Haken aber bleibt leer. Vielleicht liegen die Schlüssel noch in der Handtasche meiner Frau, die längst schon aus dem Haus ist? Vielleicht habe ich sie auch selbst irgendwo verloren. Mir bleibt jetzt keine Zeit mehr zur Suche. Ich bin in Eile, ein wichtiger Termin drängt.
Krachend schlägt die Wohnungstür zu, und ich haste die Treppe hinunter. Gute zehn Minuten sind es, immer entlang der Grünauer Allee, bis zur Straßenbahn. Ich wage einen Sprint, der Atem wird schneller, nur durchhalten, denke ich und bekomme Seitenstechen. Doch ich bin da.
Mein Blick trifft auf die Wartenden, der Wind bläst in die Gesichter. Wehmütig sehe ich den Autos nach, die vorbeihuschen. Bequem ist sie doch, meine heile Welt, gestehe ich mir ein. jeden Morgen düse auch ich hier vorbei, mit Stereo-Sound. Manchmal nur ein flüchtiger Blick zu den Passanten am Straßenrand. Vom Gleiskörper her ertönt ein Singen - die herannahende Bahn.
Bewegung kommt in die Menschenmenge, Türen springen auf, und die Leute drängen hinein. Schmutzige Scheiben und Neonröhren, die blenden. Draußen erwacht in morgendlicher Dämmerung die Stadt. Hinter mir, auf den kalten Sitzschalen, unterhaken sich angeregt Kinder, die zur Schule müssen. Sie sind, mit Abstand die muntersten Fahrgäste. In Windeseile erfahre ich den ganzen Stundenplan der 2b und als Zugabe das komplette gestrige Fernsehprogramm.
Dann aber nimmt das Gespräch eine jähe Wendung: »Weißt Du schon«
, beginnt die größere
der beiden, »Miry ist tot! - Die aus der 3a? - Hm, die wurde doch von einem Auto angefahren
und mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Gestern ist sie gestorben. Mein Vati sagt, der
Autofahrer hat Schuld, das neue Fahrrad ist auch total Schrott!«
Die Gespräche im Umkreis verstummen. Betroffen sehen die Leute zu den Kindern, auch ich bin nachdenklich. Es gibt immer mehr Tote auf unseren Straßen. Das Mädchen könnte noch leben, wenn …
»Miry ist nicht tot, sie ist jetzt im Himmel!«
Vorwurfsvoll sieht die Kleine jetzt zur
Großen und nickt dabei. »Meine Mutti sagt immer, wer stirbt kommt zum Herrn!«
Ich wende
den Kopf, um in die Augen des Mädchens zu sehen.
Der Blick der Kleinen ist ernst und - wie ihr Finger - nach oben gerichtet. Als könne sie Gott selbst sehen.
G. Badynski Weiter>>>