Nachtschwärmer in der Völkerfreundschaft
Am 11. September 2004 trafen sich im Freizeittreff
»Völkerfreundschaft«
über 500 Jugendliche zum mittlerweile »7.
Nachtschwärmer«
. Bei freiem Eintritt konnte man in drei Sälen zu Techno-Klängen und
auf einer Disco-Party abtanzen oder die Konzerte von sieben Bands miterleben. Diese Konzerte
waren auch die Hauptattraktion dieser inzwischen zur Grünauer Tradition gewordenen
Musiknacht.
Die Grünauer Allee füllt sich ab 19.00 Uhr im Stundentakt mit jungen Leuten. Mal stehen an
die zweihundert Schwarz-Bunt-Gekleidete vor den Türen der
»Völkerfreundschaft«
, dann verschwinden sie wieder in den drei Sälen im Innern
von Leipzigs größtem Freizeittreff. Die Bands geben den Stundentakt an: Stündlich wechseln sie
einander bis morgens um zwei auf der Bühne ab, in den Umbaupausen kommen die Zuhörer zum
Luftholen und Fachsimpeln auf die Stuttgarter Allee.
Verkehrte Welt in der Völle: Im Großen Saal legt Ronny zur Disco-Party die aktuellen Top- Hits auf, aber anfangs sitzen nur einige Leute herum. Die drei DJs Stefan, Nico und Thomas im Kleinen Saal haben bei Techno und House-Music auch kein größeres Publikum, dafür aber die Bands im Mehrzwecksaal. Die sind auch die auffälligsten: Allein die über fünfzig Scheinwerfer verbrauchen mehr als vier Kilowatt, und dann sind da noch die Boxentürme von LE-Sound, die den hunderten Zuhörern die Songs der sieben Bands um die Trommelfelle hämmern. Lautsprecher werden zu Schallwerfern.
Sechs der Bands haben ein Heimspiel, sie proben regelmäßig in den Kellerräumen der
Völle.(Nur »Fallout«
fällt aus dem Rahmen und tritt als Gastband auf.) Es
treten auf: »Bunte Berte«
, »Blind«
,
»Nevermind«
, »Fallout«
, »Die Optrien«
,
»(RE) Solution«
, »Out of Order«
. Und wenn die
einstudierten Lieder auch nicht bei allen Bands für eine ganze Stunde Musik reichen: Bei allen
Bands genau wie beim Publikum spürt man die Freude an handgemachter Musik.
Die erste Band nennt sich »Bunte Berte«
und hat seit einem Auftritt in
der »Arena«
ein festes Fan-Publikum. Das Datum 11. September ist Anlass, an
einen anderen 11. September zu erinnern, die vier Musiker machen das mit einem
»Bush-Lied«
. Das kommt an beim Publikum, junge Leute sind nicht so
politikverdrossen, wie es behauptet wird.
»Blind«
nennt sich die zweite Band, aber blind sollte man nicht sein beim
Konzert der Klinger-Gymnasiasten: Man könnte das einzige Schlagzeug-Mädchen des Abends
verpassen. Die fünfzehnjährige Stephanie probt mit ihren Freunden seit einem Jahr, den nötigen
Druck für die Punk-Metal-Songs weiß sie gekonnt auf die Trommelfelle zu hämmern.
Inzwischen wird zu den Titel der Bands auch getanzt - oder so ähnlich. Der angesagte Tanzstil nennt sich Poguen: Das ist Schubsen-Drängeln-Stoßen im Dampfhammerrhythmus, mit Lust und Spaß an der ungeordneten Bewegung.
Dann kommt »Nevermind«
auf die Bühne. Die Band um den achtzehnjährigen
Drummer Steve ist nicht neu: Sie probt schon seit 2001 in der Völle, hat inzwischen schon über
vierzig Mal in Klubs und auf Konzerten gespielt. Dem Trommler merkt man längst nicht mehr an,
dass er - wie die meisten aus der Band - Autodidakt ist: In atemberaubenden Rhythmuswechseln
wirbelt er über seine »Schießbude«
, als hätte er nie etwas anderes getan.
Ihren Musikstil wollen die Jungs von Nevermind nicht in eine Schublade pressen, sie nennen ihn
»Glamourösen Alternative-Metal-Pop«
. Das mit »Blechern glänzende
Tanzmusik der etwas anderen Art«
zu bezeichnen, befriedigt nur den eindeutschenden
Wortsucher, trifft aber in keiner Weise den Ton ihrer Musik. Erst auf Nachfrage erläutert Steve
die Musikrichtung genauer und bringt sie auf den Begriff: Fett. Das trifft es. Fette
Trommelschläge, fette Gitarren, ein fetter Bass. Nur die Musiker sind nicht fett...
»Fallout«
als Gastband hat über die Leipziger Band-Community vom
Nachtschwärmer erfahren und nutzt ihren Auftritt, um routiniert ihre aktuellen Songs
abzuspielen. Die treffen bei einer eingeschworenen Fan-Gemeinde auf lautstarke Zustimmung.
Passend zu den vier Brillenträgern in der nächsten Band ist der Gruppen-Name:
»Die Optrien«
. Bei denen wird nicht nur zu den zahlreichen Zugaben
mitgesungen - und das kurz vor Mitternacht. Der Nachtschwärmer ging ins letzte Drittel, die
Kondition der jungen Leute noch lange nicht. Klassischer Rock im Hochgeschwindigkeitstakt.
Ein drastischer Stilwechsel hätte Punkt Mitternacht geschehen können: »(RE)
Solution«
wollen auf die Turbo-Rocker »Die Optrien«
todessehnsüchtige Gothic-Balladen folgen lassen. Die Sängerin im langen schwarzen Kleid hat
jedes Lächeln aus ihren Mundwinkeln verbannt und wirkt, wie die Lieder hätten klingen können.
Nur: Ihr zurückhaltender Gesang macht es der Technik schwer, aus den Boxen die gewollte
Düsternis klingen zu lassen. Weit nach Mitternacht beginnen die (RE)Solutionäre dann wirklich
ihre in Moll gehauchten Klangteppiche schweben zu lassen. Für die immer noch ausharrenden
Punk- und Rockfans eine willkommene Atempause vor dem nächsten (und letzten) Gig.
»Out of Order«
: Gerader, simpler Metal-Hard-Rock. Die Musiker scheinen um
die Wette zu spielen - wer zuerst mit dem Lied fertig wird, hat gewonnen. Wenn der Takt nicht
gehalten werden kann, hilft die Lautstärke aus, zum Schluss ist es dann einfach nur noch laut.
Aber den Zuhörern gefällt es, und so wird alles Erprobte als Zugabe angeboten. Als das nicht
reicht, erklingt sogar noch nicht Ende Geprobtes - das Unfertige wird von den wenigsten bemerkt
und von niemandem bemängelt. Punker bleiben beim Zuhören tolerant.
In den andern Sälen ist inzwischen längst auch Tanzstimmung entstanden, und an der Bar haben die Völle-Mitarbeiter alle Hände voll zu tun, Essen und Trinken bereit zu stellen.
Als am frühen Sonntagmorgen der Nachtschwärmer zu Ende geht, haben alle das Gefühl, eine
gelungene Veranstaltung erlebt zu haben. Trotz Haushaltsperre bei den Kassen der Stadt haben es
das Jugendamt und das Völle-Team geschafft, eine Tradition nicht abreißen zu lassen. Der
21jährige Stephan ist zum ersten Mal beim Nachtschwärmer dabei, kommt aus Böhlitz-Ehrenberg und
hat durch Flüsterpropaganda erfahren, was in dieser Nacht in der Völle passiert. Ihm hat es
gefallen, er will wiederkommen: »Nächstes Jahr auf jeden Fall.«
Wolfgang
Werr