Grün-As
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Heimweh

Der Tag neigte sich dem Abend entgegen und es begann allmählich zu dämmern. Sie stand am Ufer des Sees und lauschte andächtig der Wellen Geflüster. Aus dem Schilf war das leise Raunen des Windes zu hören. Die silberne Wasserfläche färbte sich allmählich rot und es schien, als würde am Horizont die Sonne ins Wasser gleiten. Purpur leuchteten die Wolken und der runde Sonnenball verschwand alsbald vom Himmel. Zwei Fähren fuhren aneinander vorbei, die eine in Richtung Schweiz, die andere in Richtung Deutschland. Sie begrüßten sich mit einem kurzen Signalton ihrer Sirenen. Segler gaben sich dem Winde hin und glitten sanft durch die leichte Brise. Verwegene Motorbootfahrer zerschnitten spritzig die Wasseroberfläche, welche sich am Bug rechts und links teilte und anschließend wieder verlor. Wasserschutzpolizei patrouillierte in Ufernähe. Aufmerksam schauten sie durch ihre Ferngläser und fuhren anschließend in Richtung Österreich.

Vom Zoll bereits abgefertigte PKW's warteten auf die Überfahrt mit der nächsten Fähre, vollgefütterte Möwen standen auf einem Bein, das andere angezogen und genossen das wohlige Gefühl des Sattseins. Noch immer war sie da, diese Frau. Sie wirkte verträumt, entrückt und fremd. Plötzlich erschrak sie und ging in Richtung Uferpromenade weiter. Nur sie wusste, was in ihr vorging. Sie beachtete nicht vorbeiflanierende Menschen und auch die verlockenden Auslagen in den Schaufenstern interessierten sie nicht. In Gedanken sprach sie lautlos mit sich und dem See. Es waren Worte des Abschieds, des Abschieds für immer. Sie wusste, dass sie hier nicht wieder herkommen würde. Traurig war sie nicht darüber, denn die Sache war gut überlegt.

Bild »Nein, sie gehörte nicht dem See«. Ihre Heimat war das hier nicht. Sie dachte zurück wie es war, damals vor neun Jahren, als sie das erste Mal alles hier sah. Auf der anderen Seite des Ufers erblickte sie die schneebedeckten Alpen betörend schön und märchengleich. »Ich lasse mich nicht von euch verzaubern, ich nicht«, waren ihre Gedanken. Doch es sollte alles anders kommen. Ein Teil der Familie lebte schon länger hier. Man bat sie innigst, zu bleiben. Da konnte sie nicht widerstehen und blieb. Es gab so viel Neues zu sehen und zu ergründen. Die Landschaft war traumhaft schön. Besonders zur Apfelblüte fühlte man sich wie im Paradies. Die Tiere auf den Weiden lebten wie im Schlaraffenland und gediehen prächtig. Arbeit gab es auch genug. Nette Menschen zu finden, war nicht schwer. Freunde fanden sich auch neue.

Jeder Tag war eine Herausforderung und die Zeit verging wie im Flug. Der Alltag mit seinen Problemen ließ keine Gedanken über Heimweh zu. Sie begann wie eine Besessene zu arbeiten, auch an allen Wochenenden. Urlaub kannte sie nicht, Krankheit auch nicht. Das ließ ihre Rastlosigkeit gar nicht zu. Für alle war sie da. Viele nutzten dies aus und baten immer wieder um ihre Hilfe. Das Wort »Nein«, kannte sie nicht. Jedem zu helfen, war ihre Aufgabe, sich dabei aber selbst vergessend. Auch Tiere, die krank, verletzt oder angeschossen sie fand, wurden mit heimgenommen, gepflegt, hochgepäppelt, wenn notwendig, dann zum Tierarzt gebracht. Regenwürmer wurden gerettet.

»Wollen ja auch leben«. Irgendwann wurde der »Teufel Alkohol« ihr bester Begleiter. Er beflügelte und ließ das Leben leichter erscheinen. Es schien nur so. Eines Tages kames, wie es kommen musste - der Zusammenbruch. In einer psychiatrischen Klinik fand sie sich wieder. Nun hatte sie Zeit, sehr viel Zeit, für sich und zum Nachdenken. Zum Nichtstun verdammt, das war vorerst das Schlimmste. Aber es ging auch! Ja, es ging! Man fand heraus, dass sie ihr Heimweh unterdrückt hatte. Viele Jahre. Das war es. Ihre Heimat, ihre Wurzeln, Familie, Freunde, das fehlte. Nach einigen Wochen, »wieder stabil für das Leben da draußen«, wurde sie aus der Klinik entlassen. Was sie zu tun hatte, wusste sie. Wieder befindet sie sich an einem See. Dieses Mal aber nicht allein. Sie sitzen gemütlich zusammen - ihre Familie, ihre Freundin und deren Familie. Alle lachen, plaudern, freuen sich. Es gibt Kaffee und Kuchen. Sie genießen das Beisammensein. Der Himmel freut sich mit. Möwen fangen Kuchenstücke auf, die durch die Luft wirbeln. In den Bäumen säuselt leise der Wind vor sich hin, die zarten Birkenblätter schwingen sachte. Ein großer Schwarm Haubentaucher und Enten sonnt sich am Ufer. Einige Schwäne schauen neugierig und erwartungsvoll. Sie sehen gut genährt aus.

Bild Über dem See kreist ein Modellflugzeug. Der Motor klingt kratzig. Nun stürzt es in den See. Ein Mädchen rettet das Flugzeug. Sie bekommt ein Eis spendiert. Im glasklaren Wasser des Sees tummeln sich einige Taucher, mit dabei ihre Kinder. In den schwarzen Tauchanzügen sehen sie aus, wie Minifroschmänner. Zwei Reiterinnen fliegen im leichten Galopp vorbei. Ein nachspringender Hund wird eindringlich zurückgepfiffen. Nackte Sonnenanbeter springen gerade in die Fluten, währenddessen die Enten und Haubentaucher davonstieben. Der Duft frischer Rostbratwürste zieht durch die Luft. Das Bratstübel, nur wenige Meter entfernt, hat geöffnet. Dort schmecken die Fischbrötchen besonders gut und das Bier ist preiswert und süffig. Der Freisitz lädt zum Verweilen ein, denn Tische und Stühle sind sauber und schmucke Tischdecken versprechen eine gepflegte Atmosphäre.

Die zwei Campingplätze sind stets belegt. Die Parkplätze aber auch. Davon sind zu wenige vorhanden, denn der »Ansturm« ist groß. Aus ganz Deutschland kommen die Urlauber, Camper, Tauchsportler. Sie kommen aus Hamburg, Berlin, München, Stuttgart, usw. Die Kennzeichen weisen darauf hin. Ja, hier lässt es sich leben, am Rande der Stadt, im Grünen, in einer schönen, hellen, sanierten Plattenbauwohnung, unweit vom See. Alles liegt so günstig beieinander. Auf Kunst und Kultur braucht man hier nicht zu verzichten. Möglichkeiten sind viele vorhanden. Das alles ist Heimat!
Ch. Kayser

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