In Kinderhänden
Alternatives Schulprojekt erhält in Grünau neues Zuhause (2)
Apropos Weg: Der klassische Bildungsweg ist es zwar nicht gerade, den ein Sudbury-Schüler geht. Für einen Abschluss muss er an eine staatlich anerkannte Schule wechseln und einiges an Unterrichtsstoff nachholen. Dafür hat er den meisten anderen Kindern und Jugendlichen etwas Entscheidendes voraus: Er arbeitet aus eigener Motivation, er kennt seine Fähigkeiten und Grenzen und er besitzt ein ausgeprägtes Demokratie- und Rechtsverständnis. Kristin Lehmann versucht die komplexe Idee, die hinter diesem ungewöhnlichen Projekt steht, zu erklären:
»Uns geht es vor allem darum, die Grundrechte von
Kindern zu wahren und sie somit demokratisch aufwachsen zu lassen. Das Recht jedes Erwachsenen, frei zu
entscheiden, was er tun möchte und was lieber nicht, sollte auch Kindern eingeräumt werden. Das ist
nicht immer einfach. Es gibt Tage da gehe ich nach Hause und bin fix und fertig. Nicht, weil der Trubel
so anstrengend ist, sondern weil ich mich selbst dabei ertappe, in alte Verhaltensmuster zurück zu
fallen. Denn allzu oft möchten wir die Kinder ja mit Belehrungen, Ver- und Geboten eigentlich nur vor
Schaden bewahren oder ihnen etwas beibringen. Doch dabei wird oft übersehen, wie massiv wir damit in
ihr Leben eingreifen, wenn wir unsere individuellen Vorstellungen und Ängste auf sie
übertragen.«
Trotz aller Selbstbestimmung der Kinder geht es in den eher spartanisch eingerichteten Räumlichkeiten des
Sudbury-Lernzentrums nicht drunter und drüber. Individualismus wird zwar groß geschrieben, hat sich
allerdings der Gemeinschaft unterzuordnen. Wer in diese »Schule«
geht, kommt freiwillig und weiß, warum er
sich an die Regeln halten muss. Mitglieder der Gemeinschaft, Schüler und Begleiter, haben jeweils eine
Stimme und entscheiden in der wöchentlichen Versammlung über die gemeinschaftlichen Regeln und über alle
Belange des Lebens im Lernzentrum. Im Alltag sieht das so aus: Fühlt sich ein Kind oder ein Begleiter
ungerecht behandelt oder bemerkt einen Missstand, so kann dies zur »Anzeige«
gebracht werden. Selbige wird
noch am gleichen Tag von allen - insgesamt 15 - Schülern und den anwesenden Begleitern »verhandelt«
und
eine »Konsequenz«
für den begangenen Regelverstoß beschlossen.
Was sich zunächst streng anhört, ist so einfach, wie auch erfolgreich: »Die Kinder merken, dass ihre
Persönlichkeitsrechte geschützt werden. Sie erkennen diese Rechte für sich und wissen, dass sie auch für
jeden anderen gelten, egal wie alt jemand ist. Sie wissen, dass sie sich nichts gefallen zu lassen brauchen,
aber auch, dass es nichts bringt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und dass über alles die Gemeinschaft
entscheidet - falls es für die Gemeinschaft eine Bedeutung hat, sprich zur Anzeige gebracht wird«
, erläutert
Kristin Lehmann, gelernte Buchhändlerin und selbstständig tätige Gebärdensprachdolmetscherin, das Prinzip.
Und wie auf Bestellung schneit die kleine Saskia in diesem Moment zur Tür hinein und erzählt von ihrem
Kummer und dass ihr der Bauch weh tut, weil jemand dagegen gestoßen ist. Ein klarer Fall für eine Anzeige.
Oder doch nicht? Saskia muss überlegen: War es ein Versehen oder wurde sie absichtlich gestoßen? Tut es
überhaupt noch weh - jetzt, da sie sich von ihrer Begleiterin eine Portion Trost abgeholt hat? Saskia
verschwindet, wie sie gekommen ist und tobt mittlerweile quietsch vergnügt im Prinzessinnenzimmer. So
einfach ist das manchmal: »Hätte ich mich jetzt da eingemischt, wäre die ganze Sache unnötig aufgebauscht
worden und es hätte wahrscheinlich noch mehr Stress unter den Kindern gegeben«
, erklärt Kristin Lehmann,
wie sie ihre Aufgabe als Begleiterin sieht. Ansprechpartner sein und Hilfe leisten, wenn erwünscht. Ansonsten
im Hintergrund halten und sich nicht einmischen - natürlich nur so lange die Kinder nicht ernsthaft gefährdet
sind.
Keine Aufsicht durch studierte Pädagogen, keine Bevormundungen, kein Unterrichtszwang, lernen wie
und wann man möchte - das alles klingt wie eine Zeile aus Gerhard Schönes
»Kinderland«
. So viel Liberalismus in deutschen Landen? »Entschieden zu viel
Freiheitsliebe und zu wenig Bildung«
, urteilte denn auch das Regionalschulamt und brachte
damit die angestrebte Schulgründung vor eineinhalb Jahren zum Scheitern. Seither bezeichnet sich das
Familiennetzwerk als Freundeskreis von Eltern, die wollen, dass ihre Kinder selbst bestimmt lernen
können - nach dem Vorbild einer Sudbury-Schule. Ihr Traum der staatlichen Anerkennung ist derweil in
Hamburg wahr geworden und sie sind sicher, dass es in Leipzig auch bald so weit sein wird.