»Weißt du noch ...?«
Hausgemeinschaft Binzer Straße 1 feiert 25-jähriges Bestehen
10. Oktober, 19 Uhr: Im Trockenraum der Binzer Straße 1 herrscht reges Treiben. 32 Menschen stopfen sich in den 12 Quadratmeter großen Betonkeller, einige umarmen sich freundschaftlich, bevor sie Platz nehmen, andere stellen sich per Handschlag vor. Die ersten Sektkorken knallen, auf den Tapeziertischen liegen Papiertischdecken, darauf stehen kalte Platten, die ersten offenen Biere und Schalen mit Knabbereien - die Binzer 1 feiert Hausgemeinschaftsparty und rockt die Platte.
Ein paar Wochen zuvor hatten die Erstbewohner Renate und Wolfgang Taucher ihren langjährigen Nachbarn Dr. Wolfgang
Franke im Treppenhaus getroffen. »Mensch«
, sagte jener, »jetzt wohnen wir hier schon 25 Jahre
...«
. Dass das eigentlich zünftig gefeiert werden müsste, spukte seit dieser Begegnung in Tauchers Köpfen herum.
»Früher, da hätten wir gar nicht lange überlegt«
, meint Taxifahrerin Renate. Früher wäre auch klar
gewesen, dass alle mitziehen. Aber heute?
Die Eheleute aus der 301 waren sich gar nicht sicher, ob ihre Neuauflage der einst üblichen Kellerfeten funktionieren
würde. Ein Aushang wurde trotzdem für jeden sichtbar an die Haustafel gepinnt. Darauf sollte sich jeder eintragen, der Lust
hat, zur HG-Party zu kommen. »Ich war skeptisch«
, gesteht der pensionierte Bergmann Wolfgang Taucher.
Immer wieder sagte er zu seiner Frau: »Das wird nichts«
. Doch er hatte Unrecht - jeden Tag wurde der
Zettel voller.
Alte und neue Bewohner kündigten sich an, auch Ehemalige. Wer sitzen wollte, musste seinen Stuhl selbst die Kellertreppe runter tragen. Auch Speisen und Getränke sollten eigentlich mitgebracht werden. Gestört hätte es sicher Niemanden, aber es sollte anders kommen. Der Vermieter, von den Alten nur liebevoll AWG genannt, sponsert kurzerhand die Party und KONTAKT-Chef Rainer Löhnert mischt sich mit unter den illustren Hausgemeinschaftspulk.
Dicht gedrängt sitzen nun alle pünktlich im winzigen Trockenraum. Die Alten plaudern munter drauf los, als hätten sie erst vor einem Monat das letzte Mal zusammengesessen. Die Neuen knabbern noch etwas verlegen Salzstangen und amüsieren sich über Florian, den mit seinen drei Jahren jüngsten Partygast. Um sie mit einzubeziehen, gibt es eine kleine Vorstellungsrunde. Und so erfahren die Anwesenden, welcher Name sich hinter welchem Auto auf dem Parkplatz verbirgt oder wem der Kinderwagen gehört, der jeden Tag im Hausflur steht.
Während die meisten ihre ganz persönlichen Aha-Erlebnisse haben, nickt Dr. Wolfgang Franke wissend. Für ihn sind das
keine Neuigkeiten, denn er kennt sie alle. Immerhin hat er schon für jeden einmal ein Päckchen angenommen. Einen Hinweis
»Poststation«
, wollen ihm nun seine netten Nachbarn ans Klingelschild kleben. Natürlich lieb gemeint.
Das Eis ist gebrochen und schmilzt im tropisch warmen Keller dahin. Schnell sind alle per du, die Alten erzählen Stories
von den Anfängen der Binzer 1, Fotos machen die Runde, die Stimmung ist ausgelassen und die drei Worte »Weißt du
noch ...«
fallen beinah minütlich.
»Weißt du noch, als wir mit Gummistiefeln an den Füßen und den guten Schuhen in einer Tüte in der Hand durch
Grünau gelaufen sind?«
, »Weißt du noch, als unsere Kinder nur mit dem Bus zur fünf Minuten entfernten
Schule fahren durften, weil der Weg über die Baustellen zu gefährlich war?«
, »Weißt du noch, als Frau
Tina Haederich jeden Morgen mit ihren Stöckelschuhen von ganz oben durchs Haus gelaufen ist und damit alle geweckt hat und
ihr Mann den alten Sabarosch im Hof geräuschvoll anließ?«
»Weißt du noch, als der Werns, sein Kuchenblech einfach in unseren Herd geschoben hat, als seiner kaputt
war?«
, »Weißt du noch, als die Feuerwehr kommen musste, weil sich eure Katze im Fenster verklemmt
hat?«
, »Ja, weißt du noch ...?«
Die Zeit verrinnt, Bierkästen und Weinflaschen leeren sich, die Häppchen sind verputzt und immer neue alte Geschichten
werden unter lautstarkem Gelächter zu Gehör gebracht. »Das war wie eine Zeitreise«
, meinen die ehemalige
Hausbewohner Familie Schlecht, als sie weit nach Mitternacht in ihr neues Zuhause aufbrechen. »Es war echt
interessant zu erfahren, welche Menschen hinter den Türen leben, an denen man tagtäglich vorbeigeht«
, ist das
Fazit eines Neuen.
»Das sollte wiederholt werden«
, sind sich am Ende des Abends alle einig. Der wiederbelebte Geist des
Hauses zeigt sich bereits am nächsten Morgen. Nicht nur, dass man gemeinsam den Trockenraum säubert - auch der Gruß fällt
freundlicher aus, das Lächeln ist ehrlicher und ganz sicher rennt man nun nicht mehr so achtlos in der alltäglichen Hatz
aneinander vorbei. Probieren Sie es doch in ihrer eigenen Hausgemeinschaft aus, es lohnt sich ...