Editha Feuser
Meine Rosa
Weihnachten wurde in meiner Kindheit im Esszimmer gefeiert, das wir sonst nur benutzten, wenn wir Besuch bekamen. Der Esstisch, der in der Mitte des Zimmers stand, wurde ausgezogen, so dass das Christkind, an das ich mit elf Jahren noch glaubte, Platz für die Geschenke hatte. Der Tisch war festlich gedeckt mit Tellern voller Süßigkeiten, jedoch weitaus bescheidener, als es heutzutage üblich ist.
Jedes Teil war akkurat nebeneinander platziert, obenauf lagen die bunten Fondantkringel, die wir Kinder so sehr liebten. Die Geschenke, die das Christkind bescherte, waren vor allem Kleidungsstücke oder später Dinge für die Schule, was man eben so brauchte.
Wenn das Christkind klingelte, mussten wir Kinder erst ellenlange Gedichte vor dem Weihnachtsbaum stehend vortragen und eine unendlich lange Reihe Lieder singen. Dabei versuchten wir, heimlich auf den Gabentisch zu schielen; denn das Christkind brachte für jeden auch ein Spielzeug. Ich wusste, dass jedes Jahr eine liebe Tante, eine Schwester meiner verstorbenen Mutter, eines für mich »bestellt« hatte.
An jenem Weihnachtsfest war meine Freude besonders groß. Bei der Bescherung glaubte ich zu träumen: An meinem Platz saß eine wunderhübsche, große Puppe. Bisher hatte nur meine jüngere Schwester Irmgard Puppen bekommen. Ich durfte zwar auch damit spielen, aber nur zusammen mit meiner Schwester, hieß es. Das war nicht dasselbe. Diese Puppe hier gehörte mir ganz allein. Überglücklich schloss ich sie in die Arme. Die Puppe hatte einen wunderschönen Porzellankopf mit großen Schlafaugen und gut riechenden, echten Haaren, und sie trug ein rosarotes Organdykleidchen. Und so nannte ich sie »Rosa«.
Am liebsten wollte ich meine Rosa gar nicht mehr loslassen. Abends nahm ich sie mit in mein Zimmer und setzte sie neben mein Bett auf den Nachttisch. Doch eines Nachts - oh Schreck! - fiel Rosa hinunter, und der schöne Porzellankopf wurde beschädigt. Ich war untröstlich. Aus Angst vor meinen Eltern versteckte ich die Puppe ganz unten in meinem Kleiderschrank. Vergessen konnte ich Rosa aber mein ganzes Leben nicht, so sehr hatte ich um sie getrauert. Sie war die einzige Puppe, die ich je geschenkt bekam.
Als Puppenfan besitze ich heute mehrere schöne Exemplare. Vor zehn Jahren, als ich 75 Jahre alt wurde, erlebte ich ein
kleines Wunder: Auf einer Puppenbörse entdeckte ich sie: genau dasselbe hübsche Bubiköpfchen wie damals meine geliebte
Rosa! Nur trug diese Puppe ein weißes Kleidchen mit schöner Stickerei. Auf meine Frage, wie alt die Puppe sei, sagte mir
der Verkäufer, sie stamme wahrscheinlich aus dem Jahre 1921. Später erfuhr ich, dass es eine Armand-Marseille-Puppe ist.
Seitdem sitzt diese Puppe auf meiner Couch, und ich liebe sie genauso, wie ich als Kind meine Rosa geliebt habe.
(Küllstedt, Eichsfeld, Thüringen; 1926)