Abserviert
Klinkenwirt muss Platz machen
Wo die Miltitzer Allee die Lützner Straße kreuzt, ist das orangefarbene Haus weithin der einzige Blickfang. Vorne grüßt die Comicfigur Billy Bronx im Namen seiner Pizzeria, hinten versteckt sich ein Restaurant mit kleinem, aber gemütlichen Freisitz. Obwohl hier gleich zwei Gastronomen - eine seltene Spezies im westlichen Grünau - erfolgreich wirtschaften, scheint das Urteil über das Haus bereits gefällt: Die Abrissbirne reißt den Blickfang weg - für eine Handvoll Parkplätze.
Plötzlich ging alles ganz schnell: Im November 2009 erfährt Mike Seiffert, Chef der Gaststätte »Zur
Klinke«
, dass die Konsumgenossenschaft ihr Grundstück verkaufen möchte und deswegen das Mietverhältnis zur
Disposition steht. Rechtlich betrachtet ein fairer Zug, da die Kündigungsfrist nur drei Monate beträgt, Seiffert mit seinem
Familienunternehmen aber noch bis Mitte des Jahres bleiben darf. Über die Hintergründe erfährt er nur durch Zufall - weil
er vor seinem Restaurant auf einen allzu redseligen Vermesser trifft: Netto Nord habe sich eingekauft und wolle den
Flachbau um eine Etage kürzer machen, hieß es da. Wegen neuer Parkflächen.
Seiffert geht sofort zum Quartiersmanagement, trifft auf engagierte Vermittler, aber an der Sache ändert sich nichts.
Der Vorgang scheint sich gar zu beschleunigen: »Ein paar Tage vor Weihnachten hat der Verkauf stattgefunden, noch
im alten Jahr hatte ich die Kündigung auf dem Tisch«
, sagt der abservierte Wirt. »Es geht um meine
Existenz«
, sagt Seiffert und beantwortet die Frage nach der Alternative zum Wirtsdasein mit einem Wort:
»Arbeitslosigkeit.«
Für ihn, für seine Mutter, für seine Frau. Mike Seiffert hat drei Kinder zu versorgen.
Der neue Eigentümer möchte sich nicht äußern, will nicht einmal den Kauf bestätigen. Im Übrigen handelt es sich bei
»Netto Supermarkt«
nicht um die bereits vor Ort bekannte Marke »Netto Marken-Discount«
,
sondern deren Konkurrenz, die als deutscher Ableger einer dänischen Kette bisher ausschließlich im Norden Deutschlands
Filialen unterhielt.
Plausible, aber unbestätigte Erklärung: Die deutschlandweite Verwandlung aller Plus-Märkte in Netto-Filialen ist der
Bruch mit einer stillen Übereinkunft, sich geografisch nicht ins Gehege zu kommen. Netto Nord legt nach, und für Sachsen
ist in der »Expansionsabteilung«
der »Standortentwickler«
André Kulschun
verantwortlich. Der gibt sich bedeckt: »Ja, wir haben vor kurzem im Umkreis Märkte eröffnet. Leipzig wäre die
logische Folge. In drei bis vier Wochen können wir mehr sagen, denn es sind noch einige Faktoren unklar.«
Ob die
unliebsamen Nachbarn einen dieser Faktoren darstellen, will Kulschun nicht sagen. Fragen zu sozialer Verantwortung könnten
schon daher nicht beantwortet werden, weil vorerst nicht einmal zur Filiale selbst etwas nach Außen dringt.
Diese muss übrigens zwingend im bestehenden Gebäude nebenan entstehen. Vormals waren darin erst Kondi und dann Diska eingemietet. Allen Planungen hinsichtlich einer baulichen Erweiterung hat die Stadt Leipzig einen Riegel vorgeschoben. Der schon lang geplante Verkauf des gesamten Grundstücks scheiterte zunächst an einer abgelehnten Bauvoranfrage. Ursprünglich geplant war nämlich der Abriss beider benachbarter Gebäude und der Bau eines mehr oder minder schmucken, größeren Neu-Discounters.
»Das widerspräche aber den Sanierungszielen ganz erheblich. Für diesen Bereich haben wir uns nach intensiver
Auseinandersetzung mit den Bürgern auf Rückbau festgelegt«
, sagt der zuständige Stadtumbaumanager Sebastian
Pfeiffer. Dass damit nicht nur radikale Wohnraumverknappung, wie mit dem Abriss der »Eiger Nordwand«
geschehen, einher geht, zeigt eine städtische Präsentation, die Abteilungsleiter Stefan Geiss vom Amt für Stadterneuerung
und Wohnungsbauförderung (ASW) im September 2009 bei einem einschlägigen Meeting in Fulda vorgestellt hatte.
»Weiterer Rückbau von Infrastruktureinrichtungen geplant«
, heißt es da mit rotem Kreis um die Fläche, die
seinerzeit noch dem Konsum gehörte. Eine entsprechende Grafik beweist zudem, dass Seifferts Restaurant und die Pizzeria
auch in den städtischen Planungen keine Rolle gespielt hätten. Ein nicht gerade stadtteiltypisches Positivbeispiel von
Unternehmertum sollte einem künstlichen Schuttberg weichen, der besser ins neue Grünkonzept passt.
Es ist also kein Geheimnis, dass die Stadtplaner über die generelle (Rück-) Entwicklung so unzufrieden aber nicht sind,
am liebsten den Konsum zum Abriss beider Gebäude bewogen hätten. »Es geht schließlich auch um Dinge wie die
kostspielige Unterhaltung unterirdischer Infrastruktur«
, sagt Pfeiffer und räumt in Hinblick auf einen
potenziellen neuen Supermarkt ein: »Gegen eine Bestandsentwicklung haben wir allerdings keine Handhabe.«
Will heißen: Weil das Gebäude nebenan einst ein Supermarkt war, könne man privaten Besitzern einen Weiterbetrieb als
ebensolchen nicht versagen, auch wenn es zwischenzeitlichen Leerstand gab.
Perfide daran ist: Die Vertreibung der Gastronomen mithilfe einer Handvoll Parkflächen passt damit vielen Mitspielern
besser ins Konzept als der Gebäudeerhalt. Für den Konsum ist die teuer verkaufte Nachnutzung des leerstehenden Marktes
natürlich wirtschaftlicher als ein Abriss. Für einen modernen Supermarkt sind weder die vorhandene Zufahrt noch die
vorhandenen Parkflächen akzeptabel - das Sanierungsziel »Rückbau«
fördert in seiner ironischsten Weise
die Rasur des orangefarbenen Blickfanges. Und für die Stadt ist es immerhin »Rückbau light«
, obwohl kaum
nachvollziehbar ist, wie das im Sinne ihrer Bewohner sein kann.
Das Argument, für den mobilitätseingeschränkten Grünauer Altersdurchschnitt, kurze Wege zum Lebensmitteleinzelhandel schaffen zu müssen, scheint für Gastronomie nicht viel zu gelten: Die Wohnkomplexe 7 und 8 sind jedenfalls mit vergleichbarer Restauration äußerst dürftig ausgestattet, meint nicht nur ein selbstbewusster Mike Seiffert, der womöglich zu Recht um seine Haupteinnahmequelle, die Stammgäste, fürchtet.
Weil in Sanierungsgebieten geplante Um- und Abbauten auch auf privatem Grund der amtlichen Zustimmung bedürfen, wusste
das ASW schon in früherem Stadium vom Parkplatz-Plan. Pfeiffer dementiert nicht, dass Seifferts Gaststätte und die Pizzeria
dabei - vorsichtig ausgedrückt - etwas aus dem Blick gerieten. »Aber es ist auch nicht unsere vordergründige
Aufgabe, jeden Mieter nach seiner Meinung zu fragen«
, sagt der Umbaumanager und betont, dass Grünau dahingehend
als Ganzes betrachtet werden müsse: »So bedauerlich das Einzelschicksal ist, es geht immer um die Entwicklung des
Stadtteils.«
Dazu sei die Stadt schon durch einen ganz anderen Fakt nicht belastet, erklärt Pfeiffer: Auch wenn
man sich seinerzeit für den Grünauer Westen auf andere Entwicklungsziele festgelegt hätte, die einen Abriss nicht
zugelassen hätten, seien die Vermietung und somit auch Kündigungen reine Privatsache.
Das persönliche Schicksal des Wirtes sei jedoch keineswegs egal. Die
»Uns-sind-die-Hände-gebunden-Erläuterungen«
würzen Pfeiffer und das ASW mit der Zusage, Seiffert bei der
Suche nach einem Objekt in der Nähe zu unterstützen - natürlich ohne Garantie. Denn wo die Seifferts zukünftig Schnitzel
klopfen, ist gegenwärtig völlig unklar. Antje Kretzschmar vom Quartiersmanagement gibt sich optimistisch, redet von
vielversprechenden Gesprächen mit dem Konsum, deren Erfolg sie nicht durch eine öffentliche Wunschliste gefährden will.
Den Verkauf als solches kann Kretzschmar, die durch die Anbindung des Quartiersmanagements zur Stadtverwaltung nur
fast-neutral sein kann oder darf und damit etwas zwischen den Stühlen sitzt, durchaus nachvollziehen. »Eine frühere
Auseinandersetzung mit den Mietern wäre aber fairer gewesen«
, meint sie, »denn der Verkaufswunsch ist
schon lange bekannt.«
Leerstehende Objekte hätte der Konsum jedenfalls noch etliche zu bieten, sagt dazu
Sebastian Pfeiffer. Ergo: Noch bevor Seiffert mit einem geschmacklosen Weihnachtsgeschenk vor vollendete Tatsachen gestellt
wurde, hätte eine neue Örtlichkeit längst besprochen werden können. Nun herrscht Unsicherheit.
Fakt ist aber auch: Ganz ohne Weiteres verschwindet das orangefarbene Haus dann doch nicht. Während Seiffert durch die
Vertragsgestaltung schnell aus dem Haus zu bekommen ist, hat der Nachbar einen halbwegs guten Faustpfand: Die Pizzeria ist
laut deren Chef Thomas Antok mit einem Mietvertrag ausgestattet, der immerhin bis ins Jahr 2011 läuft. »Ein
moderner neuer Laden kostet 70.000 Euro«
, sagt er auch in Richtung derjenigen, die wohl nicht auf das reguläre
Ende des Mietverhältnisses warten wollen.
Für seine »Hallo Pizza«
-Filiale hat Antok damit einen komfortablen Verhandlungsspielraum, dennoch
wäre auch er lieber geblieben. »Wir sind mittlerweile jahrelang da, haben uns etabliert.«
Auch bei ihm
wäre ein Scheitern dieser Absprachen existenzbedrohend. »Aber ich bin wohl besser abgesichert«
, sagt
Antok und verweist auf interne Finanzierungsmöglichkeiten innerhalb der Franchise-Kette. Das erklärte Ziel sei jedenfalls
ein reibungsloser Umzug ganz ohne Schließungstag. Wo Antok neu eröffnen will, sei aktuell noch nicht spruchreif.
Schlussnotiz der unschönen Art: Die Konsumgenossenschaft wollte zu diesem Thema keine Fragen beantworten. Ein Kontakt zur Vorstandssprecherin kam trotz etlicher Versuche über mehrere Werktage hinweg nicht zustande.
Reinhard Franke