Ein Verband gegen Ruhe im Ruhestand
Die »Altenkultur«
wird 20 Jahre jung - und feiert den Umstand im neuen Domizil
Donnerstagnachmittag, irgendwo in den Meyerschen Häusern: Ein knappes Dutzend älterer Menschen sitzt an einer ordentlich gedeckten Kuchentafel beisammen. Das Bild vom geselligen Kaffeekränzchen drängt sich auf - und verschwindet binnen Sekunden. Vor jedem der Anwesenden liegt nicht nur ein Gedeck, sondern auch ein Schreibblock. Streng genommen handelt es sich um ein Arbeitstreffen, zu dem sich der Kreis namens Schreibende SeniorInnen wöchentlich zusammenfindet.
»Streng genommen«
ist gleichermaßen auch eine atmosphärische Beschreibung der Szene, denn dialogische
Heiterkeit ist, wie bei einer Dienstberatung, zugunsten der Sache (vorerst) Fehlanzeige. Gertraud Dörschel, mit etwas mehr
als 80 Jahren die Älteste am Tisch, rückt sich in Position und trägt mit Hörbuchstimme vor, was sie zuvor daheim mit
sauberer Schreibschrift zum Thema »Jahre, die ich gelebt habe«
in ihrem Block festgehalten hat. An
anderer Stelle schreibt sie über sich selbst: »Die Erinnerung ist ein Paradies, aus dem ich nicht vertrieben
werden kann, und ich nutze diesen Umstand.«
Roswitha Scholz (60) sitzt am Kopfende der Tafel und hört sich die Passagen aufmerksam an. Hinterher wird die Leiterin
der Gruppe zur Kritikerin: Was ist schon gut, was geht noch besser? »Mir ist wichtig, dass ich die Schreib-
Motivation jedes Einzelnen herausfinde und fördere«
, sagt Scholz, die am Literaturinstitut studiert hat.
Wichtiger als eine Veröffentlichung der Texte sei es, das Anliegen der Autoren zu unterstützen.
»Für einige ist das Schreiben eine Auseinandersetzung mit eigenen Problemen, für andere der Wille, etwas zu
hinterlassen.«
Schlichtweg ein auf Papier gebrachtes Vermächtnis also, dem Scholz aus professionellem Blickwinkel
zur Reife verhilft. Dabei sind »ihre«
Senioren schon ohne die Chefin kritisch. »Ich kann heute
einfach nicht lesen«
, sagt Gertraud Dörschel, als sie sich nach vier Leseminuten erstmalig verhaspelt. Was mit
dem Text geschehe? »Der wird dann weggepackt«
, sagt die Autorin - deren Werke es häufig genug in
Publikationen geschafft haben und die noch vor Erscheinen dieser »Grün-As«
-Ausgabe zwei Lesungen hinter
sich gebracht haben wird.
»Frau Dörschel ist bekannt für ihr Understatement«
, ruft Johannes Burkhardt vom anderen Ende der
Tafel. Dass man den 81-Jährigen aufgrund von körperlicher und geistiger Frische gut und gern 20 Jahre jünger schätzen
würde, kommentiert die Jüngste am Tisch, Christine Kaiser (60), mit den Worten: »Kunst und Kultur halten eben
jung!«
Sie erntet Zustimmung von einer Gruppe, die sich als »schöpferische Werkstatt«
begreift
(Burkhardt), und auf die die Wortschöpfung des »Un-Ruhestands«
vollauf zuzutreffen scheint. Die
ungewöhnliche Autorenschar gibt es auf Initiative ihrer Leiterin schon seit 1982, sie rekrutierte sich aus den jeweiligen
Alterspräsidenten diverser staatlicher Schreibbrigaden und ist jederzeit offen für Neulinge.
»Wir haben schließlich auch einen biologisch bedingten Abbau«
, witzelt Burkhardt. Manch ein Senior
sei weniger wegen autobiographischen Erzeugnissen, sondern aus Interesse an Geselligkeit hinzugestoßen, sagt Scholz, die
selbst ähnliche Motive anführt: »Unser Geheimnis ist, dass wir uns untereinander so gut verstehen. Für mich ist es
auch so etwas wie Familie.«
Roswitha Scholz ist jedoch nicht nur im Schreibzirkel das Alpha-Tier. Ihrem
Engagement und einigen Zufällen ist es zu verdanken, dass sich vor 20 Jahren der bundesweit agierende Dachverband
Altenkultur gründete - ein Umstand, der rund um den Gründungstag am 23. November kräftig gefeiert werden soll.
Als stellvertretende Vorsitzende ist Scholz verantwortlich für die Leipziger Geschäftsstelle, die es seit 1992 gibt.
Nach mehreren Umzügen ist der Verband mit seiner Arbeit in Grünau angekommen. Unterstützt von der Leipziger Wohnungs- und
Baugesellschaft (LWB) zog die Altenkultur zunächst in die Brambacher Straße. Derzeit ist ein Großteil der 15. Etage in der
Stuttgarter Allee 30 an den Verband vermietet. Das passt gut zur demographischen Entwicklung, schafft mitten in Grünau
kurze Wege für Interessierte. Genau beim Interesse werde es aber auch problematisch: »Wir machen uns etwas vor,
wenn wir denken, dass Kultur für alle ein Grundbedürfnis ist«
, sagt Scholz.
Obwohl sich die Arbeit des Verbands immer weiter ausdifferenziert hat, erreiche man häufig sogar alleinstehende Ältere
im gleichen Hochhaus nicht. Trotz täglichem Mittagessen für 3 Euro. Trotz des Angebots, kostenlos zum Vorlesen
vorbeizukommen. Trotz praktischer Kurse wie Gedächtnistraining, »Umgang mit dem Handy«
oder
»Umgang mit dem Computer«
. Roswitha Scholz ist realistisch, sagt: »Viele gehen doch kaum vor
die
Tür - also auch nicht zu uns.«
Das hat immerhin den Vorteil, dass die Anwesenden eine hohe Motivation mitbringen.
Wer sich, egal in welchem Bereich, etwas zutraut, kann sich quasi organisiert entfalten.
Auch generationenübergreifend (Scholz argumentiert gesamtgesellschaftlich: »Wir sind kein Seniorenverein,
wenden uns an alle, wollen Dinge weitergeben und weiterleben lassen.«
) oder fachübergreifend: Getraud Dörschel
schreibt nicht nur ihre Memoiren, sondern hat auch das Titelbild der Verbandspräsentation gestaltet. Bei Johannes Burkhardt
ist es umgekehrt, vom Bild zum Wort: Im Berufsleben als Maler tätig gewesen, ist seine Handschrift nun in heiteren Episoden
über die Sprachfindung des Urenkels oder nachdenklicher Lyrik zu finden. Mit seinen Schilderungen über 30 Jahre Wohnen im
Hochhaus wolle Burkhardt, wohnhaft in einem anderen der wenigen übriggebliebenen 16-Geschosser in Grünaus Zentrum, einen
Gegenentwurf zum negativen Stadtteil-Image liefern.
Mehr als 80 Publikationen hat der Dachverband Altenkultur mithilfe sprachgewandter Senioren auf den Markt gebracht,
darunter viele als Resultat bundesweiter Projekte wie Schreibwettbewerbe oder mittlerweile regelmäßiger Reisen an die Elbe
(»Brückenschlag«
). Eines der wichtigsten Schlagwörter der Verbandsarbeit ist: Vernetzung. Und zwar in
ganz vielen Facetten. So ist beispielsweise der »Brückenschlag«
eine Ost-West-Vernetzung, gleichsam auch
die Verbindung von Schriftstellerei, Fotografie und Malerei. So sind die jährlichen Leipziger Seniorenseminare etwas, was
Geschäftsleute als Tagung bezeichnen würden. So ist ein breites Geflecht an Kooperationspartnern wichtig, um die
Verbandsarbeit finanziell abzusichern.
Ohnehin wird im Gespräch mit Roswitha Scholz schnell deutlich, welch immense Rolle der schnöde Mammon spielt.
»Ich habe mich gewundert, dass unsere Kollegen im Westen immer wieder darüber redeten: Geld, Geld,
Geld.«
Schnell habe die Vereinsvorsitzende allerdings gemerkt, wie berechtigt die Debatten seien: Man ist nicht nur angewiesen auf
engagierte Ehrenamtliche. Scholz selbst habe sich »als eine der ersten Arbeitslosen der DDR«
immer
wieder von einer befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zum nächsten ähnlichen Projekt durchgewurstelt. Die Arbeitsplätze
der Angestellten werden kaum über die geringen Jahresbeiträge der Einzelmitglieder oder Mitgliedsgruppen finanziert. Zudem
ist eine Mitgliedschaft nicht einmal zwingend nötig, um an den Aktivitäten des Dachverbands teilhaben zu können.
Vielmehr hänge jeder bezahlte Job am Tropf staatlicher Förderung. Ein wenig von hier, ein wenig von dort - dazu die
alljährlich wiederkehrende Ungewissheit über die Bewilligung von Fördermitteln. Auch hier steht die Geldbeschaffung unter
dem Aspekt breiter Verflechtung. Neben den Einnahmen aus Projekten (Scholz: »Es wäre aber schön, wenn wir aus
einer Lesung auch einmal finanziell etwas mitnehmen könnten.«
) ist der Verband vor allem auf das Wohlwollen der
Partner angewiesen. Etliches entspringt kleinen Deals. Die Creativ Apotheke in der Antonienstraße 41 mit Galerie und
»Schauwerkstatt Filzen«
ist günstig, weil der Verband dem Vermieter im Gegenzug eine Publikation erstellt
hat und die Räumlichkeiten in eigener Regie herrichtete.
Zumindest in Grünau scheint das Wohlwollen ausgereizt. Manche Ausgaben muss der Verband verstärkt aus eigenen Mitteln
finanzieren. Für den Lückenschluss war nun die LWB angefragt, die ihr Entgegenkommen jedoch nicht erhöhte. Scholz'
realistisches, aber auch bitteres Fazit: Der Standort Stuttgarter Allee ist in seiner jetzigen Größe nicht mehr haltbar.
Das bedeutet die Aufgabe von Gästewohnungen, Geschäftsräumen und weiterer für Projekte genutzter Räume. Bleiben werden
allerdings Küche und Gemeinschaftsraum. In letzterem wird weiterhin Mittagessen serviert, einige Kurse und gesellige
Treffen an Feiertagen finden weiterhin dort statt. »Wir müssen und wollen für die bleiben, die uns hier angenommen
haben«
, sagt Roswitha Scholz.
Mit dem Großteil seiner Aktivitäten startet der Dachverband Altenkultur im neuen Domizil durch, das gar nicht weit
entfernt liegt. Pünktlich zum Jubiläum werden dort gleich zwei Objekte eingeweiht: In der Hermann-Meyer-Straße 1 wird auf
100 Quadratmetern nicht nur der Verband verwaltet. Praktische Kurse und Projekte wie Nähen, Tanzen und Malen werden dorthin
umziehen. Vor Ort wird die Meyersdorfer Märchenstube eingerichtet, und auch eine Bibliothek. Nicht weit entfernt entsteht
aus einem ehemaligen Blumenladen »so eine Art Spinnstube«
(Scholz), dort sollen auch die eigenen
Publikationen eine Heimat finden. Rund um das Jubiläum findet das jährliche Seniorenseminar statt, das eigens dafür um
einen Monat verschoben wurde.
In der Zukunft hat sich der Dachverband Altenkultur viel vorgenommen. Der räumlichen Verkleinerung stehe eine Zunahme an
Partnern gegenüber, sagt Scholz. Bei der Einrichtung der neuen Räume sei nicht nur die Stiftung selbst sehr entgegenkommend
gewesen, sondern auch einige Handwerksfirmen - und sogar eine ansonsten völlig unbeteiligte Wohnungsbaugenossenschaft.
Bedanken will sich der Verband mithilfe der eigenen Pfunde: Die Ergebnisse aktueller Projekte sind eben nicht nur gut fürs
Bücherregal, sondern auch gesellschaftlich zum Anfassen. Mit einer »vertanzten Modenschau«
wollen 15
arbeitslose Frauen nicht den neuesten Stil an die Frau bringen, sondern als Zeitzeugen Geschichte einmal anders
präsentieren. Der Verband schielt auf Auftritte in Heimen oder bei Festen, hält aber auch Verbindungen zu
Ausbildungsbetrieben, will also junge Menschen ansprechen.
Zum Thema »Wirf deine Angst in die Luft«
arbeiten Blinde und Sehende gemeinsam. Für die Präsentation
in der Creativ Apotheke reift das Projekt KlangFarben heran, das Malerei und Musik verbindet. Die Schreibenden SeniorInnen
werden sich zu ihrem »Dialog am Donnerstag«
wohl weiterhin andernorts in den Meyerschen Häusern treffen.
Nämlich beim »Netzwerk Älterer Frauen«
- jawohl, auch so ein Kooperationspartner. Informationen unter
0341-4 22 98 61 oder www.dachverband-altenkultur-leipzig.de.