Grün-As
Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Leipzig, 30. Mai 1968, 10 Uhr

Die Fotos der Karin Wieckhorst bewahren erlebte Geschichte

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45 Jahre ist dieser 30. Mai nun schon her. Fast scheint es, als habe sich dieser Tag fest in Ihr Leben eingebrannt?
Karin Wieckhorst
Ich war 26. Seit zwei Jahren Fotografin am Museum für Völkerkunde. Kunstinteressiert. Christin. Mit Plänen für ein Studium der Fotografie. Der 30. Mai war ein sonniger Frühjahrstag. Doch etwas war anders. Der ganze Karl-Marx-Platz war abgesperrt. Die Paulinerkirche sollte gesprengt werden. Seit einer Woche war der Beschluss bekannt. Eigentlich konnte ich das gar nicht glauben. Es gab stumme Proteste. Leute versammelten sich. Es wurden Blumen an die Gitterabsperrung gebunden. Aber stehen bleiben sollte niemand. Gruppen wurden sofort aufgelöst. Die Polizei war präsent. Die Stasi sicher auch.
Grün-As
Und trotzdem haben Sie mit der Kamera »draufgehalten«?
Karin Wieckhorst
Von der zweiten Etage des Grassimuseums hatte ich direkten Blick auf die Kirche. Ich nahm mein Stativ, befestigt die 6x6-Kamera, das 300er Objektiv und war fassungslos. Die Glockenklänge mischten sich mit der ersten Detonation und im Rhythmus des Auslösers versuchte ich, das Geschehen festzuhalten. Alles ging so schnell. In vielleicht zehn Sekunden entstanden vier Bilder. Mir waren die Knie weich. Eine solche Barbarei hätte ich mir nie vorstellen können. Erst kippte der Dachreiter, dann der Turm und die Westseite der Kirche, am Schluss fällt die Giebelrosette an der Frontseite. Der aufsteigende Rauch hüllte den gesamten Platz ein. Setzte sich später und der Schuttberg klaffte wie eine riesige Wunde.
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Haben Sie die Bilder gezeigt?
Karin Wieckhorst
Die wenigen, die damals an der Hauptpost oder am ehemaligen Ringhotel stehend versuchten, zu fotografieren, wurden sofort angesprochen. Die Filme beschlagnahmt. Mehr als einer zum Gespräch mitgenommen. Die politische Führung wollte in Zeiten des Prager Frühlings und der Studentenunruhen keinen Aufruhr. Ich habe die Abzüge nur unter der Hand an Bekannte weitergegeben. Und einige habe ich heimlich an die Litfaßsäulen auf dem Platz geklebt. Das war mein Anteil am Protest.
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Heute kann man viele wunderbare Arbeiten von Ihnen in Ausstellungen und Bildbänden betrachten - »Wir waren die Letzten...« oder »FREMDE. Asyl in Sachsen«. Was ist aus den vier Bildern vom 30. Mai '68 geworden?
Karin Wieckhorst
Als in den 90ern der Verband Bildender Künstler eine Auktion für Erdbebenopfer veranstaltete, habe ich bewusst genau diese vier Schwarz-Weiß-Fotografien angeboten. Und tatsächlich hat sie die Stadt Leipzig ersteigert und heute hängen sie nebeneinander im Stadtgeschichtlichen Museum. Nun sind Sie mit der gesamten Foto-Serie der Zerstörung der Universitätskirche St. Pauli zu Gast in einer Kirche, deren Gemeinde sich bei ihrer Gründung vor 35 Jahren bewusst den Namen Paulusgemeinde gab.
Grün-As
Wie ordnen Sie das ein?
Karin Wieckhorst
Für mich schließt sich damit ein Kreis. Die Erinnerung ist nicht nur in meinen Bildern lebendig. Es ist eine große Freude für mich. Eine lebendige Kirchengemeinde, die sich des Vergangenen besinnt und gleichzeitig aktiv ihre Gegenwart und Zukunft gestaltet. Ein schönes Jubiläum.
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