Editorial
9. Oktober 1989
Liebe Leserinnen und Leser, wissen Sie noch, wo Sie am Abend des 9. Oktober 1989 waren? Normalerweise kann man ja eigentlich nicht davon ausgehen, dass einem Geschehnisse erinnerlich sind, die ein Vierteljahrhundert zurück liegen. Phänomen oder nicht: Es gibt Daten, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben. Der 9. Oktober ist so eines. Zumindest für die Leipziger und somit auch für mich. Zarte 15 Jahre war ich alt und hatte alles Mögliche im Kopf nur nicht Politik.
An jenem Montagabend vor 25 Jahren hockte ich also entgegen meiner sonstigen Gewohnheit in unserer 3-Zimmer-Neubauwohnung in Mockau-West. Von meinen Eltern mit striktem Ausgehverbot belegt, nachdem ich im Spätsommer rein zufällig, ahnungs- und arglos in eine Szenerie auf dem Nikolaikirchhof geraten war. Natürlich erzählte ich zu Hause von den vielen Menschen, die sich dort versammelt hatten - vor und hinter der martialisch mit Schilden, Schlagstöcken und Hunden ausgestatteten Polizeikette. Die Geräusche jenes Abends - das widerhallende Gebell und das Trommeln der Stöcke auf den Schilden - habe ich noch heute im Ohr.
Jetzt da ich diese Erinnerungen erstmals versuche in Worte zu fassen, erstaunt mich meine damalige Furchtlosigkeit. Wohl behütet aufgewachsen und von allem Übel fern gehalten, hätte mich das Erlebte eigentlich erschrecken müssen. Ich sah, wie Menschen äußerst unsanft auf die Ladefläche von ELOs verfrachtet wurden und ich sah sie wegfahren. Erst viel später (um genau zu sein 20 Jahre später) erfuhr ich, wo diese Fahrt endete. Erst in diesem Moment verstand ich den resoluten Hausarrest von einst in seiner ganzen Tragweite.
Der 9. Oktober hat mich - obwohl ich ihn auf dem heimischen Sofa, höchst wahrscheinlich vor dem Fernseher verbracht habe - geprägt. Die elterliche Ausgangssperre war aufgehoben und so zog es mich die folgenden Montage wie tausende anderer Leipziger in die Stadt. Ich stand staunend in einer schier unglaublichen Menschenmasse, hörte die Sprechchöre, versuchte Losungen auf Transparenten zu lesen beziehungsweise zu verstehen, lief eines Abends beinah die gesamte Ring-Strecke neben Fritz Pleitgen, den ich nicht kannte und daher auch nicht kapierte, was der alte Mann im schicken Mantel von mir will. Er wollte reden - ich irgendwie nicht.
Ende November - längst war meine gesamte kleine und bis dato heile jugendliche Welt völlig aus den Fugen geraten - wandelte sich auch der Charakter der Montagsdemonstrationen. Der gesamte Karl-Marx-Platz schien in schwarz-rot-gold getaucht zu sein - die Rufe nach einer schnellen Wiedervereinigung wurden unüberhörbar. Vorbei die Zeit kreativer Ideen, vertan die Chance, die DDR als Staat zu erhalten, umzuformen und mit zu gestalten. In nur zwei Monaten war aus mir, dem Kind des real existierenden Sozialismus, ein selbstständig denkender, handelnder und politisch interessierter sowie engagierter Mensch geworden - trotz jugendlichen Alters sehr wohl in der Lage, sich anbahnende Prozesse kritisch zu beurteilen. Ich beschloss, dem deutschdeutschen Glückstaumel fortan fernzubleiben.
So! Und warum schreibe ich all dies? Weil der 9. Oktober ungeachtet aller, sich anschließenden Unvollkommenheiten ein Tag der Freude ist. Ein Tag, an dem Geschichte, Politik, Gesellschaft greifbar werden. Begreifbar. Und wert, ihn zu feiern. Leipzig hat dieses Datum ganz für sich allein und versteht es, dies zu nutzen. Ein bisschen weniger eventlastig und abstrakt, wäre mir zwar lieber, aber das ist Geschmackssache. Ich werde diesen Abend jedenfalls ganz sicher nicht wie damals zu Hause verbringen und wünsche mir, dass es mir viele gleichtun.
Ihre Klaudia Naceur