Editorial
Persönliches
Liebe Leserinnen und Leser, um es gleich vorweg zu nehmen: Es wird an dieser Stelle auch im aktuellen Heft um die alles beherrschende Flüchtlings-Thematik gehen und es wird persönlich. Sehr persönlich sogar.
Vielleicht hat sich der ein oder andere von Ihnen schon einmal gefragt, woher mein Nachname »Naceur«
(wobei das C wie S gesprochen wird) stammt. Es klingt französisch, ist es auch
irgendwie. Aber ich bin nicht, wie schon oft vermutetet, ein Nachfahre hugenottischer Einwanderer. Nein, ich war schlicht und ergreifend elf Jahre mit einem Algerier verheiratet. Einem Flüchtling.
Als 22-Jähriger »floh«
er aus seiner Heimat. Nicht weil er tatsächlich politisch verfolgt wurde. Auch der später sehr blutig ausgetragene Bürgerkrieg war zum Zeitpunkt seiner
»Flucht«
noch nicht entflammt. Als ältester Sohn einer Familie mit zehn Kindern, sah er vielmehr keinerlei Perspektive für sich. Extrem hohe Arbeitslosigkeit und Armut waren für ihn Grund
genug, sein Glück in der Fremde zu suchen. 1990 nannte man Menschen wie ihn Schein-Asylanten. Im drastischeren Pegidasprech heißt das heute Sozialschmarotzer.
Sein Antrag auf Asyl wurde denn auch folgerichtig abgelehnt – nachdem er nicht freiwillig ausreiste, verhaftete man ihn in einer Nacht- und Nebelaktion in seinem Zimmerchen in einer Flüchtlingsunterkunft bei Torgau. Nach einer Nacht in Abschiebehaft, wurde er nach Frankfurt gebracht und in ein Flugzeug nach Algier gesetzt.
Zuvor durfte er noch ein Telefonat führen. Seine schluchzenden Worte auf unserem Anrufbeantworter werde ich nie vergessen. Während meine erste große Liebe ausreisen musste, saß ich 400 Kilometer weit entfernt in Leipzig und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Ich war 17 und im zweiten Monat schwanger.
Was folgte war ein monatelanger Papier- und Nervenkrieg. Acht Wochen dieser Zeit verbrachte ich in Algerien. Das war im Sommer 1992. Explosive Monate: Der algerische Präsident wurde kurz vor meiner Ankunft ermordet, der Flughafen Algier kurz vor meiner Abreise in die Luft gesprengt.
Zwischendurch Unruhen und Tote bei Demonstrationen – einer in unmittelbarer Nähe des klapprigen Mietshauses, in dem wir wohnten. Doch auch anderswo waren die Zeiten unruhig. Ein Ereignis hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben: Die Nachricht über die Progrome in Rostock-Lichtenhagen ereilte mich in einem winzigen Zimmer im Mini-Appartement meiner künftigen Schwiegereltern. Zirka 20 Leute hatten sich vor dem mikroskopisch kleinen Bildschirm versammelt.
Ich sah die Bilder, verstand aber nichts von dem, was gesagt wurde und hörte ein leises Weinen. Die Mutter meines Freundes – eine herzensgute Frau – hatte Angst um ihren Sohn, der doch unbedingt in dieses Land zurückwollte, wo Flüchtlinge anscheinend ihres Lebens nicht sicher sind. Es hat lange gebraucht, sie davon zu überzeugen, dass Rostock verhältnismäßig weit weg ist und die Lage in Algerien bei weitem gefährlicher.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Kurz nach der Geburt unserer Tochter konnte der stolze Papa zurück nach Deutschland. Wir durften (eigentlich mussten wir) heiraten und es begann eine Zeit, die ich trotz der kleinen und größeren Schikanen, denen unsere ausländischen Mitbürger leider tagtäglich ausgesetzt sind, als glücklich bezeichnen würde.
Mein Mann lernte die Sprache fast perfekt, arbeitete hart und war in mancher Hinsicht sogar noch sehr viel deutscher als ich. Nach acht Jahren wurde er Staatsbürger dieses Landes. Seinen Pass hätte er anfangs am liebsten mit ins Bett genommen. Er lebt auch noch heute – nach unserer Trennung – in Deutschland.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich dazu animieren möchte, hinter der Fassade »Flüchtling«
den Menschen zu entdecken – mit seiner ganz individuellen Geschichte. Der es nicht verdient
hat, pauschal abgewertet, gehasst oder gar attackiert zu werden. In den nächsten Ausgaben wird es um Initiativen und Projekte gehen, die sich dieser Menschen annehmen. Mir machen sie Mut und geben Zuversicht
in diesen turbulenten Zeiten. Ihnen vielleicht auch, hofft Ihre...