»Vorher hat mich Politik nicht interessiert«
Theatrium-Projekte zum Thema Gewissen, Gewalt und Radikalisierung
Die Zeit und die Situation seien es, die sie für die Politik interessiert hätte, sagt Anja. Vorher hätte sie das sterbenslangweilig gefunden. Gemeinsam mit fünf weiteren Jugendlichen im Alter von 16 bis 18
Jahren probt das junge Mädchen derzeit am Kinder- und Jugendtheater Theatrium für ein Stück, welches sich der hochaktuellen Flüchtlingsthematik annimmt, den gesellschaftlichen Diskurs mit eingeschlossen. Die
finanzielle Voraussetzung für dieses Projekt schaffte der Berliner Verein »Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung«
, der sich auf vielfältige Weise um die Erforschung gesellschaftlicher Themen bemüht
und im Jahr 2015 im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit«
, das gefördert wird durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend sowie die Bundeszentrale für politische Bildung, das Modellprojekt »Frontaldiskurs«
durchführt. Auf die Grünauer Einrichtung aufmerksam geworden, ermöglichte Minor e.V. den hiesigen Theaterleuten
in diesem Jahr die Umsetzung eines Projekts in zwei Phasen.
Ziel sei es laut Verein »das Verhalten Jugendlicher in Konfrontationssituationen in den Blick zu nehmen, sie in den gesellschaftlichen Diskurs zu Rechtstaatlichkeit, Untauglichkeit von Gewalt als politische
Ausdrucksform und gesellschaftlichen Zusammenhalt einzubinden«
. Kurz gesagt: Es geht um politische Bildung sowie Gewalt- und Radikalisierungsprävention. Doch wie nähert man sich einem solchen Thema? Georg
Herberger – Projektverantwortlicher des ersten Teils, welches bereits beim Theatrium-Sommerfest aufgeführt wurde – setzte alles auf Anfang: »Wo fängt Radikalisierung und Gewalt an? Wenn man dieser Frage auf
den Grund geht, landet man zwangsläufig beim eigenen Gewissen.«
Mit fünf Jugendlichen begibt sich Herberger in den Stadtteil. Sie befragen Passanten, stellen Fragen wie: »Würden Sie für Ihre Meinung ins Gefängnis gehen oder gar ihr Leben riskieren?«
, »Sind Sie mit Ihrem
Gewissen schon einmal in Konflikt geraten?«
oder »Was ist überhaupt ein Gewissen?«
. Die Antworten werden gefilmt und sie erstaunen die jungen Schauspieler zum Teil. Am Ende sind die Interviews Teil des
Stückes »Das Gewissen«
, werden via Beamer auf eine Leinwand projiziert, während sich die Szenerie selbst um die gleichgeschlechtliche Liebe zweier Mädchen dreht. Mobbing, Ausgrenzung und schließlich Gewalt–
die Lebenswirklichkeit vieler Jugendlicher, ob nun betroffen, selbst agierend oder Zuschauer – wird dabei genauso thematisiert, wie die Gefühle der »Täter«
- angefangen bei ersten Bedenken über Skrupel bis
eben hin zum schlechten Gewissen.
Während in diesem Stück das schlechte Gewissen obsiegt und sich die Schläger bei ihrem Opfer entschuldigen, scheinen die Protagonisten im zweiten Teil, über dessen Titel die Jugendlichen zum Redaktionsschluss
noch debattierten, noch weit davon entfernt zu sein. Zumindest die Gemimten. Denn ein Großteil der Inszenierung, welche am 19. November zum Projektabschluss von »Frontaldiskurs«
im Theatrium aufgeführt wird,
widmet sich real existierenden Kommentaren auf flüchtlingsfeindlichen Facebookseiten. Was dort dem Zuschauer um die Ohren fliegt, ist eine Mischung aus heuchlerischer Besorgnis bis hin zum blanken Hass und
Mordaufrufen. Als die Idee geboren wurde, diese Äußerungen in das Stück zu integrieren, ahnte noch Niemand, dass sich das Theatrium selbst wenige Wochen später auf einer rechtslastigen Internetseite mit
diversen verbalen Attacken konfrontiert sieht.
Erschreckend finden das die Jugendlichen, können sich aber vielleicht gerade dadurch noch intensiver ins Thema hineinfühlen. Als die verantwortliche Theaterpädagogin Constanze Burger das Projektthema
»Flüchtlinge«
in der Gruppe vorschlug und das 23-minütige Stück mit den Jugendlichen konzipierte, waren nicht alle sofort begeistert, wie die 17-jährige Marie zugibt: »Erst dachte ich: 'schon wieder
Flüchtlinge. Das nervt.' Ich bin zwar am Thema interessiert, aber man hört und sieht ja irgendwie nichts anderes mehr. Jetzt finde ich es aber gut. Man beginnt, sich zu hinterfragen. Zum Beispiel, welche
Vorurteile habe ich selbst oder wie betrifft es mich persönlich?«
Constanze Burger gibt zu: »Natürlich gibt es eine gewisse Übersättigung am Thema. Aber man muss sich auch gewahr werden, dass es uns noch sehr
lange beschäftigen wird.«
Beschäftigt haben sich die jungen Leute sehr vielschichtig damit. Die Facebookkommentare sind zwar ein erschreckender Teil der Aufführung, aber längst nicht alles. Da reihen sich mediale Versatzstücke nahtlos
aneinander: Ein marodierender Mob vor einer Flüchtlingsunterkunft, Gesprächsfetzen unter Jugendlichen, zwischendurch die skurrile Show »Deutschland sucht den Superflüchtling«
. Die »Sendung-mit-der-Maus«
erzählt die Fluchtgeschichte eines kleinen Mädchens und bildet einen bizarren Kontrast zum Nachfolgeprogramm, bei dem sich ein krietschender Kinderpulk beim »KiKa-Tanzalarm«
austobt.
Herzzerreißend hingegen die Szene, in dem der dreijährige syrische Junge, dessen Körper Anfang September an den türkischen Strand gespült wurde und das Bild davon um die Welt ging, selbst zu Wort kommt. Der
16-jährige Michel schlüpft in die Rolle des kleinen Aylan und rührt zu Tränen, als er sagt: »Ich muss nun zurück – in einen kleinen dunklen Raum …«
. Den Kloß im Hals kann man beim kurzen Abriss der
Entstehungsgeschichte der UN-Menschenrechtskonvention herunterwürgen, bevor er sich beim Klang des Klassikers »Irgendwo auf der Welt, gibt's ein kleines bisschen Glück«
unweigerlich seinen Weg zurück in die
Kehle bahnt.
Ein Stück, das betroffen macht und zum Nachdenken anregt, aber aufgrund des übervollen Spielplans leider nicht für mehrere öffentliche Vorstellungen nach dem 19. November geplant war. »Das bedauern wir nun«
,
gibt Theatriums-Chefin Beate Roch Auskunft. »Zwar geht es bei dem Projekt in erster Linie nicht um das Produkt, sondern um den Prozess und richtet sich folglich auch eher an die projektbeteiligten
Jugendlichen. Aber das Ergebnis ist derart gelungen, dass wir derzeit überlegen, ob wir es nicht doch im neuen Jahr nochmals aufführen.«