Im Interview: Asylkorrdinatoren Hannah Cremer und Anselm Schelcher
Es ist kein Geheimnis: Lange bevor im vergangenen Jahr der starke Zuzug von Geflüchteten Leipzig erreichte, war das Thema Migration in Grünau präsent. Nicht allein, weil es mit der Unterkunft in der
Liliensteinstraße schon immer Berührungspunkte mit Menschen aus anderen Herkunftsländern gab, die oftmals nach der Klärung ihres Aufenthaltsstatus im Stadtteil blieben. Hinzu kam eine Vielzahl von
Spätaussiedlern aus den ehemaligen Sowjetstaaten, die sich in Grünau niederließen.
Als die Kommune dann Ende 2015 händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber suchte, wurde sie auch im hiesigen Viertel fündig: Wo sonst gibt es noch so viele leer stehende Gebäude in
städtischem Besitz!? Darüber hinaus verfügt der Stadtteil im Gegensatz zu vielen anderen Leipziger Gegenden noch über genügend bezahlbaren Wohnraum für dezentral untergebrachte Geflüchtete. Die Lösung schien
einfach und angesichts des Dilemmas, in dem die Verwaltung steckte beinah alternativlos.
Doch einfach ist nicht immer optimal, wie sich nun herausstellt. Längst rumort es im Zentrum Grünaus. Die Stadt muss nachjustieren und versucht dies mit einer durch das Sozialamt finanzierten Stelle eines
Asylkoordinators. In Aussicht
gestellt wurde die bereits für
das erste Quartal 2016. Im
September haben nun Hannah
Cremer und Anselm
Schelcher ihre Arbeit aufgenommen.
»Grün-As« unterhielt
sich mit ihnen über
ihren Start in Grünau, die
Herausforderungen des Jobs
und etwaige Zukunftsvisionen.
Grün-As
Erst einmal herzlich
willkommen im Stadtteil.
Es war immer von einem Asylkoordinator
die Rede. Ihr seid
zu zweit. Wieso?
Anselm Schelcher
Wir teilen
uns zum einen die Stelle des Asylkoordinators
und noch eine weitere
für die soziale Betreuung von
Menschen, die dezentral untergebracht
sind. Beide Stellen laufen
aber über den Pandechaion –
Herberge e. V., der mittlerweile
einige Gemeinschaftsunterkünfte
in ganz Leipzig betreibt – unter
anderem die beiden in der Liliensteinstraße
– und nun ganz neu
die Aufgabe der Koordnierungsstelle
im Stadtteil übertragen bekommen
hat.
Grün-As
Nun also Grünau. Wusstet ihr,
was euch hier erwartet? Kanntet
ihr den Stadtteil?
Hannah Cremer
Bis auf wenige
private Kontakte kannte ich Grünau
nicht so gut, aber ich hatte eine
Ahnung von der Problematik im
Stadtteil im Hinblick auf die Unterbringung
von Geflüchteten.
Immerhin hatte ich selbst vielen
Menschen hier eine Wohnung
vermittelt.
Grün-As
In welcher Funktion?
Hannah Cremer
Als Leiterin und Sozialbetreuerin
einer Gemeinschaftsunterkunft
in Mölkau. Dort war ich
ein Dreivierteljahr und zuvor
in der Erstaufnahmestelle Ernst-
Grube-Halle. Dabei habe ich viele
wichtige Erfahrungen im Umgang
mit Geflüchteten sammeln können.
Grün-As
Hast du auch schon auf dem
Gebiet gearbeitet, Anselm?
Anselm Schelcher
Ja, ich habe eine Ausbildung
in ziviler Konfliktbearbeitung an
der Akademie für Konflikttransformation in Köln gemacht. Noch
mehr profitiere ich allerdings
von meinen Auslandsaufenthalten.
Nach meinem Arabistik-Studium
war ich viele Jahre in Palästina, Irak
und Mauretanien in der Entwicklungszusammenarbeit
und mit
dem Internationalen Roten Kreuz.
Wenn man die Menschen in ihren
Herkunftsländern erlebt, erklären
sich viele Verhaltensmuster, die bei
den Deutschen oft auf Unverständnis
stoßen.
Grün-As
Die Probleme im Zusammenleben
basieren demnach auf
Unkenntnis und Missverständnissen?
Ist es tatsächlich so einfach?
Anselm Schelcher
Natürlich nicht in jedem Fall.
Kriminelles Verhalten lässt sich
nicht durch Aufklärung aus der
Welt schaffen, aber kleinere Nachbarschaftskonflikte
schon.
Hannah Cremer
Die Unwissenheit auf beiden
Seiten, führt oft zu ganz blöden
Missverständnissen. Manchmal
geht es tatsächlich um völlig
banale Sachen wie beispielsweise
Mülltrennung. Da können schon
Workshops und ähnliche Angebote
helfen.
Grün-As
Aber auch so banale Konflikte
können nerven. Ihr sitzt hier in
der Ringstraße – mitten im –
wenn ich das mal so sagen darf
– Problemquartier Grünaus.
Wie nehmt ihr das hier wahr?
Hannah Cremer
Natürlich gibt es vor Ort einen
hohen Migrationsanteil unter
den Bewohnern. Wir reden hier
aktuell von etwa 30 Prozent. Diese
Zahl betrifft Grünau-Mitte und
ist mit Abstand der höchste Anteil
in Grünau.
Anselm Schelcher
Im Vergleich mit anderen
deutschen Großstädten ist das
noch nicht mal eine alarmierend
hohe Zahl. Problematisch war
allerdings, wie plötzlich sich hier
die Bewohnerstruktur verändert
hat. Die Grünauer fühlen sich
überrumpelt, dazu die sprachlichen
und kulturellen Barrieren.
Das führt unweigerlich zu Unwohlsein.
Ich kann die Sorgen der
Leute schon verstehen.
Grün-As
Und aufnehmen?
Anselm Schelcher
Ja, klar. Dafür sind wir ja da.
Wir stehen also nicht nur den Migranten
helfend zur Seite – das ist
nur die eine Hälfte unseres Jobs –
sondern wir verstehen uns als
Mittler, wollen Probleme kanalisieren,
an die richtigen Stellen und
Leute weiterleiten, Angebote unterbreiten
und natürlich ein offenes
Ohr für alle haben, die mit dem
Thema in Berührung kommen.
Das klingt dann schon eher
nach Koordinierung. Eine Aufgabe,
die bislang das Quartiersmanagement
übernommen
hat.
Hannah Cremer
Und das QM hat in einer
Zeit, in der vieles ziemlich chaotisch
lief, sehr gute Arbeit geleistet.
Die Netzwerkgruppe Migration/
Integration hat sich schon vor
Monaten auf ihre Initiative hin gegründet
und arbeitet seither sehr
konstruktiv zusammen. Das sind
für uns natürlich optimale Voraussetzungen.
Anselm Schelcher
Wir waren überhaupt total
überrascht, was es hier in Grünau
schon alles an Strukturen gibt.
Agenda-Gruppe, Caritas, Kirche,
Volkshochschule, Schulsozialarbeiter
– sie alle beschäftigen sich seit
geraumer Zeit mit der Thematik.
Hannah Cremer
Unser Kollege in Paunsdorf
hat im Gegensatz zu uns keinerlei
vorhandene Netzwerke vorgefunden.
Das hat für ihn zwar den
Vorteil, dass er ganz eigene Impulse
setzen kann. Aber er fängt eben
auch bei Null an.
Anselm Schelcher
Für uns heißt die Aufgabe
dagegen eher netzwerken. Ein
abgedroschener Begriff, ich weiß.
Trotzdem sehr zielführend.
Grün-As
Verstehe ich das richtig? Ihr
wollt die Grünauer Netzwerke
vernetzen und damit die Probleme
vor Ort lösen?
Anselm Schelcher
Wie bereits gesagt: Alle Probleme
lassen sich auch mit einem
Asylkoordinator nicht lösen. Da
greifen dann andere Maßnahmen,
die wir jedoch auch im Blick haben
und gegebenenfalls anfordern
müssen. Koordinierung heißt ja
nichts anderes als Bedarf zu analysieren,
Probleme aufzugreifen
und Abhilfe zu schaffen – sei es,
indem man selbst Lösungen anbieten
kann oder gegebenenfalls
an andere Stellen vermittelt.
Grün-As
Jetzt mal ganz konkret:
Welche Lösung seht ihr bei
der Problematik Ringstraße?
Viele Menschen, die sich bislang
sehr wohl fühlten, möchten
ausziehen. Die Gegend
droht zu kippen. Was kann
man tun?
Anselm Schelcher
Das ist eine schwierige Frage
und lässt sich nicht so einfach beantworten,
weil dabei ganz viele
Faktoren eine Rolle spielen. Das
kann keiner einfach mal so alleine
lösen. Das QM hatte dazu schon
einen Workshop veranstaltet, bei
dem alle relevanten Ämter, Institutionen
und sogar der neue Eigentümer
der betreffenden Häuser
teilgenommen haben. Das Thema
liegt nun auf dem Tisch, jetzt muss
es konstruktiv angegangen werden,
um die Situation hier zu verbessern.
Uns ist es ein sehr großes
Anliegen, mit dem neuen Eigentümer direkt in Kontakt zu treten
und die Wohnsituation wieder für
alle lebbar zu machen. Ausschließlich
wirtschaftliche Interessen können
riskant sein für das Zusammenleben
in einem schon angespannten
Umfeld.
Grün-As
Wie könnt ihr euch sonst noch
einbringen?
Hannah Cremer
Aktuell sind wir im Gespräch
mit der LWB. Ihnen gehört das
Haus, in dem wir hier sitzen und
noch die vier 16-Geschosser an
der Stuttgarter Allee, wo viele
Migranten wohnen. Im November
starten wir eine Kooperation
mit der LWB. Wir werden einen
Nachmittag in der Woche im
Vermietungsbüro Ludwigsburger
Straße sitzen und bei Bedarf Beratungsgespräche
begleiten, bei
Konflikten schlichten, Beschwerden
aufnehmen, aber auch gerne
mal ein interkulturelles Hausfest
organisieren. Weitere Projekte
stehen in den Startlöchern. Ein
ähnlich niederschwelliges Angebot
können wir uns übrigens mit dem
neuen Eigentümer der Ringstraße
vorstellen. Auch den anderen
Akteuren der Wohnungswirtschaft
und Genossenschaften bieten wir
diese Art der Kooperation an.
Grün-As
Ihr plant voraus – die Stelle des
Asylkoordinators läuft aber im
Dezember aus.
Anselm Schelcher
Das ist korrekt. Sie war von
vornherein so angelegt, dass die
drei Monate genutzt werden sollen,
um die Bedarfe und zu erwartenden
Aufgaben vor Ort zu analysieren.
Letztlich geht es um die
künftige Finanzierung der Koordinierungsstelle.
Also: Welches Amt
beteiligt sich in welcher Höhe.
Hannah Cremer
Unser Ziel ist natürlich, am
31. Dezember unseren Laden
hier nicht zuzuschließen, sondern
unsere Arbeit weiter zu führen.
Grün-As
Dann wünsche ich euch und
dem Stadtteil viel Erfolg für
eure Arbeit und danke für das
Gespräch.