»Good bye Platte«
Hommage an das Leben im 16-Geschosser - Teil 1
So langsam aber sicher verändert sich das Stadtbild von Grünau. Die hoch aufragenden 16-geschossigen Plattenbauten,
die so charakteristisch für die Silhouette dieses Stadtteils waren,
verschwinden mehr und mehr. Mag man nun über Sinn oder Unsinn des großflächigen Abrisses dieser
Hochhäuser geteilter Meinung sein - was fest steht ist die Tatsache, dass in jedem dieser
Häuser Menschen lebten. Menschen mit Erlebnissen und Schicksalen. Menschen, die alle ihr ganz
eigenes Verhältnis zum Leben in der »Platte«
haben.
Frau Christine Kelten ist eine von ihnen. Von den 17 Jahren, die sie in »ihrem«
Hochhaus gewohnt hat gibt es jede Menge unterhaltsame Geschichten, aber auch Dinge, die zum Nachdenken
anregen oder sogar betroffen machen. Christine Kelten war anfangs keine Wahl-Grünauerin. Durch einen
Brand verlor sie ihre Wohnung in Gohlis und ihr wurde - wie das damals eben so üblich war - eine Wohnung
in Grünau zugeteilt. Diese befand sich im »PH 16«
in der Straße der
Völkerfreundschaft. Dies war eines von drei gleichzeitig gebauten Hochhäusern an der heutigen
Stuttgarter Allee. Einen Tag vor Weihnachten, also am 23.12. im Jahre 1984, bezog sie gemeinsam mit
ihrem Mann eine 2-Zimmer-Wohnung in der 14. Etage. In dem ansonsten völlig leeren und noch im Bau
befindlichen Gebäude gab es bis dato nur zwei fertige Wohnungen: ihre eigene und die Hausmeisterwohnung
im 4. Stock. Somit kann man getrost von einer »Aktivistin der 1. Stunde«
sprechen.
»Das Haus war eine Baustelle«
, erinnert sich Frau Kelten. »Auf jeder Etage wurde noch in
vollster Lautstärke gehämmert, gebohrt, gesägt. Der Fahrstuhl durfte nicht benutzt werden - nur
für Lastenfahrten. Das Trinkwasser war auch noch nicht freigegeben, sondern musste vorher
abgekocht werden.«
An die Verordnung dafür kann sie sich noch genau erinnern. Kurzum: Der
Anfang war Chaos und Belastung aller Art. Oftmals sehnte sie sich nach Gohlis zurück und hatte
überhaupt nicht das Gefühl, in Grünau jemals heimisch zu werden. »Andererseits konnten wir
hautnah miterleben, wie die Wohnungen Gestalt annahmen. In nur neun Wochen musste alles
bezugsfertig sein, denn da sollten die restlichen Mieter einziehen. Im Briefkasten- und
Fahrradraum waren alle Gewerke untergebracht und die Eingangstüren wurden abends vom
Hausmeister mit einem dicken Vorhängeschloss ›verrammelt‹. Danach konnten wir nur mit seiner
Hilfe noch einmal das Haus verlassen, wenn wir das wollten. Aber alles ging reibungslos und die
nächtlichen Wachrunden vom Keller bis aufs Dach machten mein Mann und der Hausmeister
gemeinsam.«
Der erste Jahreswechsel im neuen Heim bot eine faszinierende Kulisse mit Blick über
die Stadt. Wenn da nur nicht die große Trauer in ihrem Herzen gewesen wäre…
Ab Februar ging es dann Schlag auf Schlag. 132 Familien bezogen das fertig gestellte Haus.
»Es dauerte schon einige Wochen bis das Haus voll bewohnt war und man erste Kontakte geknüpft
hatte«
, so Christine Kelten. »Mit sehr vielen Familien oder einzelnen Mietern konnte man sich
sehr schnell anfreunden. Schon bei der längeren Fahrstuhlfahrt bot sich ein kleines Gespräch
an. Freundlich und höflich waren wir allesamt und einen schönen Tag wünschte man sich auch.
Kinder und Hunde belebten das Hochhaus. Eigentlich konnte jeder bei jedem Nachbarschaftshilfe
erfahren.«
, resümiert sie. Ein Beispiel für das gute Verhältnis untereinander steht
stellvertretend für viele andere schöne Erinnerungen an diese Zeit. »Im Postraum standen von
mir gebundene Gartensträuße und Tüten mit Obst. Diese wurden unter dem Motto:
›Für wenig Geld -
frisch auf den Tisch‹ auf der Basis ›Kasse des Vertrauens‹ für die Mieter angeboten. Bezahlt
wurde in den Briefkasten - und es stimmte immer. Einmal war Kaufmannsgeld dabei. Das fand ich
ganz besonders toll. Ein Strauß Blumen für Mutti, obwohl noch kein Taschengeld vorhanden
war.«
Mitte der 80-er Jahre war das Wohnungsangebot in Leipzig, wie in der gesamten DDR, knapp. Und so war
Familie Kelten zusammen mit den anderen Mietern im »PH 16«
, wie die sachliche
Bezeichnung für die Hochhäuser lautete, glücklich über ihre hellen, warmen und schönen Wohnungen.
»Das machte auch die gute Hausgemeinschaft deutlich, welche sich aus allen sozialen Schichten
zusammensetzte. Gemeinsame Vorgartenarbeit, Verschönerung der Hausflure auf der Etage und nicht zuletzt
tolle Etagenfeste. Jeder hat auf seine Weise für die Ausgestaltung, Musik, Speisen und Getränke gesorgt
und es wurde jedes mal eine gelungene Feier. In Freud und Leid war keiner allein und Schlüsselvertrauen
war Ehrensache.«
Und so wurde Christine Kelten nach anfänglichem Unbehagen in Grünau heimisch.
Die wunderschöne Aussicht zu jeder Tages- und Nachtzeit, die Sonnenauf- und -untergänge haben sie
täglich aufs Neue fasziniert. »Neben uns wurden zwei weitere Hochhäuser gebaut und dieses
hautnahe Miterleben, wie solche ›Hausriesen‹ entstehen und das Geschehen der Bauarbeiten
von der 14. Etage bewundern zu können, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es waren richtig gute
Jahre.«
Doch das Blatt wendete sich buchstäblich. Mit dem politischen Umbruch änderte sich auch
schlagartig das Verhalten vieler Mieter. Ein Phänomen, was in allen Bereichen des
Zusammenlebens sichtbar wurde, machte auch vor dem 16-Geschosser in der Straße der
Völkerfreundschaft nicht Halt. Ein wenig wehmütig erzählt die sonst so lustige Christine Kelten
von der Zeit, die nun anbrach: »Einige zogen sofort aus, andere wurden sehr misstrauisch und
kapselten sich ab. Neue Bewohner brachten keine Verbesserung für das Hausklima. Sauberkeit,
Ordnung und Sicherheit gab es nicht mehr.«
»Ab 1999 wurde es dann richtig schlimm. Vor und im Haus lagen Spritzen herum, die Briefkästen
waren teilweise abgerissen, um zum Fahrstuhl zu gelangen, musste man über obskure
›Gestalten‹ steigen und im Fahrstuhl selbst durfte man keinen Ekel kennen, wollte man die
Knöpfe benutzen.«
Dazu kam ein gravierender Leerstand, weil natürlich auch Gerüchte
kursierten, dass das zum ›Horrorhaus‹ verkommene Gebäude gleich anderen abgerissen werden
soll und weil die LWB als Hauseigentümer nur noch die nötigsten Reparaturen veranlasste. Zwei Jahre
hielt sie es noch dort aus. Zum Schluss war sie fast allein auf der Etage. Zwei Jahre, die ihre Spuren
hinterlassen haben und von denen sie nur ungern spricht.
Als der letzte Mieter gehen musste, war das auch das Ende einer Hochhausgeschichte.
Vielleicht denkt nicht jeder gern an seine »Neubauwohnung im PH 16«
zurück… Für Christine Kelten aber war es eine vorwiegend schöne Zeit und beim Abriss dieser
Häuser bewegen sie viele zwiespältige Gedanken. Zu einigen ehemaligen Hausbewohnern hat sie
noch heute einen guten Draht, lebt und arbeitet sie doch auch weiterhin in ihrem Stadtteil.
Dass sie Grünau weiterhin die Treue hält, war für sie keine Frage. Mit Blick aus der 6. Etage
auf den Schönauer Park und netten Nachbarn fühlt sie sich rundum wohl. »Leider sind ganz viele
liebe Freunde und Nachbarn nicht mehr unter uns, aber gern reden und schwärmen wir von den
guten alten Zeiten. Jeder kann sich noch an die ein oder andere Episode erinnern und so bleiben
die Erlebnisse im Hochhaus lebendig.«
Klaudia Naceur/Christine Kelten