Grün-As

Sieben meiner Geschwister sind schon tot…

Liebe Leserinnen und Leser, lang, lang habe ich geschwiegen, obwohl so viel über mich entschieden und berichtet wurde. Aber jetzt ist es wohl an der Zeit, dass ich mich selbst mal zu Wort melde, bevor es nicht mehr geht. Ich bin seit nunmehr fast 20 Jahren Grünauer. 1979 wurde mein ältester Bruder dem jungen Stadtteil anlässlich des 30. Geburtstages der DDR zum Geschenk gemacht. Ursprünglich stamme ich eigentlich aus Thüringen - aus Erfurt, um genau zu sein.

Bild Ach, waren das schöne Zeiten… Ich wurde gefeiert, die Menschen und die Stadt liebten mich. Künstler rissen sich um meine Maisonetten-Wohnungen - nicht zuletzt wegen der tollen Aussicht. Zugegeben: Besonders originell war der Schnitt meiner Wohnungen nicht gerade, aber ich hatte immerhin Platz für 132 Appartements. Da war Leben in der Bude - das kann ich euch sagen! Und die Leute schwärmten von dem tollen Blick aus den oberen Etagen.

Aber wir waren auch vielseitig. Nicht überall beherbergten wir nur Familien. Auch bei Senioren waren wir sehr beliebt. Einige von uns hatten nur Rentner bei sich wohnen. Da war die 15. und 16. Etage zu Clubräumen ausgebaut worden und im Erdgeschoss gab es Arztpraxen. Das fand ich schon immer sehr praktisch für die alten Leute. Oder an der heutigen Stuttgarter Allee zum Beispiel. Da war die unterste Etage an die Jugend, die Urania, den ABV und die Volkssolidarität vermietet. Mein ältester Bruder (ihr erinnert euch: das Geschenk) war schon immer ein Hotel, erst für die Bauarbeiter, später dann für Gastarbeiter.

10 Jahre lang bekam ich immer mehr Geschwister in Grünau. Am Ende waren wir 20 an der Zahl. Zwei von uns blieben alleine in ihren Wohnkomplexen aber die anderen hatten ihre Brüder und Schwestern in unmittelbarer Nähe. Da wir aber so groß sind, konnten wir den »Einsamen« immer zuwinken. Tja, wie gesagt: Das waren schöne Zeiten. Jetzt ist mir eher zum Heulen zumute. Kein lustiges Winken mehr, kein Kindergeschrei, kein Lachen, kein Getummel auf meinen Gängen, kein freundliches »Hallo« mehr von meinen lieben Bewohnern. Die Stadtoberen mögen mich nicht mehr. Sie sagen, dass bei mir keiner mehr leben will. Kein Wunder, wenn ihr mich fragt. Ich habe ja auch zum Schluss nicht mehr schön ausgesehen. Meine Besitzer haben sich auch gar nicht mehr um mich gekümmert. Ich war ganz schmuddelig und konnte mich selbst kaum leiden. Und dann haben sie beschlossen, mich einfach wegzureißen. Könnt ihr euch das vorstellen? Mich? Den einstigen Stolz Grünaus!

Bild Sieben meiner Geschwister sind schon tot. Sie waren im Weg. Bei dem einen oder anderen hatten sie noch vorher echt viel Geld für die Verschönerung der Grünflächen und Parkplätze ausgegeben, eines sollte sogar als Hotel genutzt werden. Ideen hatten einige Investoren schon… aber es hat ihnen nichts geholfen. Sieben meiner anderen Brüder und Schwestern und ich selbst auch werden momentan »fertig gemacht«. Alle meine Fenster haben sie schon entfernt und einen großen Zaun um mich gebaut. Erst hatte ich mir schon ausgemalt, wie toll das wäre, wenn sie mich auch so schön sanieren würden, wie meinen ältesten Bruder (ihr erinnert euch: das Geschenk). Dann hätte ich wieder schön ausgesehen und bei mir wären auch wieder viele Leute eingezogen. Ich weiß das, denn ich glaube, dass ihr Grünauer mich eigentlich immer noch gern habt. Und ich hoffe, dass ihr mich in guter Erinnerung behaltet, wenn es mich bald nicht mehr gibt.
Euer PH 16, noch Am kleinen Feld 1

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