Leben in Grünau
Gruselige Geschichten in Grünau
Was hat die SPD-Landtagsabgeordnete Margit Weihnert mit einem
blutrünstigen Frauenmörder zu tun? Auf den ersten Blick nichts. Auf den zweiten eigentlich auch
nicht. Riskiert man jedoch einen dritten Blick, stellt man beruhigt einen ganz und gar
undramatischen, aber interessanten Zusammenhang fest. Die Grünauer Politikerin liest nämlich in
der Klasse 2a der 85. Grundschule den gespannt lauschenden Schülern die Geschichte vom
»Blaubart«
vor. Dies geschieht im Rahmen einer Lesepatenschaft - eine deutschlandweite
Initiative der Stiftung Lesen und der Zeitung »Die Zeit«
.
»Der Sinn einer solchen Patenschaft besteht darin, die Kinder ans Lesen heranzuführen, um so
ihr Interesse für Literatur zu wecken und - so der Wunsch der Initiatoren - auf lange Dauer
beizubehalten«
, erklärt Frau Jacobs, die Klassenleiterin der 2a. Sie freut sich, dass die
Schule Frau Weihnert für dieses Projekt gewinnen konnte. Bereits zum 4. Mal kam sie in die 85.
GS - im Übrigen leider die einzige Schule in Grünau, die sich für dieses Projekt angemeldet
hat. In Absprache mit Frau Jacobs wurden Bücher und Geschichten ausgewählt - in erster Linie
Märchen. Die letzte Vorlesestunde vor den Sommerferien allerdings gestalteten die Schüler mit
ihren eigenen Büchern. Die Lektüre vom grausamen Blaubart, welche reges Interesse weckte, aber
auch Münchhausens Lügenmärchen und die Geschichte vom Hungertier bannten die Kinder. Das
Konzept fruchtet.
Die Schüler haben nicht nur Spaß am Zuhören, sondern lesen und schreiben auch selbst gern. Die 9-
jährige Elisabeth beispielsweise, welche die Episode vom dicken, fetten Hungertier mitbrachte, findet
die Lesestunden gut. »In Deutsch habe ich eine 1«
, verkündete sie stolz. Im nächsten
Schuljahr - das steht schon fest - wird Margit Weihnert ihre Patenschaft fortsetzen. Die Schüler der
Klasse 7/III des Lichtenberg-Gymnasiums beteiligten sich ebenfalls an der Initiative. Allerdings wird
den Jugendlichen nicht mehr vorgelesen, sondern sie haben selbst eine Patenschaft im Kindergarten
»Kinderland«
der AWO übernommen - Motto: Kinder lesen für Kinder. Ideengeber dafür war
Sylvia Kolbe, Stadtratskandidatin der FDP.
»Also, ich kannte das Projekt der Stadt, als die Promis vorgelesen haben. Das war ja dann
beendet. Und ich weiß, dass es ziemlich viele Kinder gibt, die auch nach der Grundschule noch
nicht fließend lesen können. Bei meinen Stadtspielen ist mir das besonders aufgefallen, denn da
müssen sie vorlesen bzw. selber die Aufgaben lesen«
, erklärt Frau Kolbe den Ursprung ihrer
Initiative. »Da kam mir der Gedanke, mal in der Klasse meiner Tochter nachzufragen, ob Jemand
Lust hat, im Kindergarten vorzulesen. Weil es dort - wir wohnen in Grünau, da brauchen wir uns
nichts vorzumachen - einige Kinder gibt, denen zu Hause gar nicht vorgelesen wird.«
Die Idee kam an. Und von da an organisierten die Kinder alles selber. Da musste beispielsweise abgesprochen werden, wer hingeht - anfangs waren es immerhin 13 Schüler, die sich von März bis Juli jeden Mittwoch auf den Weg zur KITA machten. Die Bücher wurden in Absprache mit den Erzieherinnen ausgesucht. Für die 4- bis 6-Jährigen wurde die wöchentliche Vorlesestunde zum Ereignis, welchem sie regelrecht entgegenfieberten. Kinder und Jugendliche, die Kindern vorlesen, ihnen helfen wollen, die Lust am Lesen zu entdecken - diese Möglichkeit hatte wohl zunächst Niemand in Betracht gezogen. Um so lobender waren dann aber die Reaktionen sowohl vom Jugendamt als auch seitens der AWO.
Alle zeigen sich begeistert ob des Engagements der jungen Leute. Sylvia Kolbe ist sich
ziemlich sicher, dass auch dieses Projekt, genau wie die Lesepatenschaft von Margit Weihnert im
nächsten Jahr weitergeführt wird. Wünschenswert wäre es, wenn dieses Beispiel Schule machte.
Unsere Kinder jedenfallswürden nur davon profitieren.
Klaudia Naceur