Was gut war, kommt wieder
DDR-SERO-System feiert Comeback auch in Grünau
»Liebe Leute geb’n Se mir: Flaschen, Gläser, Altpapier«
, mit diesem Spruch auf den Lippen,
zogen einst unzählige Kinder mit einem Bollerwagen von Haus zu Haus, um so genannte Altstoffe zu sammeln. Manchmal war die
Aktion von der Pionierorganisation initiiert. Dann sammelte man für Kinder in Vietnam oder Nikaragua. Zumeist jedoch waren
die unermüdlichen Sammler von alten Zeitungen, Wein- und Schnapsflaschen oder Gläsern darauf aus, ihr Taschengeld ein wenig
aufzubessern.
Vor allem in Neubaugebieten wie Grünau gab es ein dichtes Netz an so genannten Sekundärrohstofferfassung (besser bekannt unter dem Namen SERO)-Annahmestellen. Mit den Öffnungszeiten nahm man es nicht immer so genau und auch die Dame an der Waage, beziehungsweise Glas- und Flaschenannahme, zweigte sich gerne mal einen kleinen Zugewinn ab. Aber man wurde seine Wertstoffe - wie es im Neudeutschen heißt - los, es gab ein paar Pfennige dafür, die Kinder waren beschäftigt und die heimischen Mülltonnen quollen nicht so über. Kurzum: Das System (Abfall zumindest) funktionierte, auch wenn böse Zungen behaupten, die DDR hätte es nicht aus ökologischen, sondern aus ökonomischen Gründen eingeführt … sei’s drum - es hat funktioniert.
Mit der Wende war allerdings zunächst Schluss damit. Da die Meinung vorherrschte, alles was auch nur im entferntesten an den kleinen Staat mit Namen DDR erinnerte, muss umgehend zerstört werden (Grüner Pfeil, Ampelmännchen, Spreewalder Gurken und Rotkäppchen Sekt inbegriffen), löste sich SERO auf und die Deutschen bekamen den Grünen Punkt, präzise ausgedrückt: das DSD - Duales System Deutschland. Noch skurriler war die spätere Einführung des Dosenpfandes. Zugegeben: Die deutsche Verpackungsidiotie schrie geradezu nach einem solch umfangreichen Entsorgungssystem und wenn es für Plastik auch noch Geld geben würde, wären ja plötzlich alle reich … Trotz DDR-lastiger Biografie der Altstoffannahmestellen - es gibt sie wieder. Zaghaft kamen die einst Verschmähten zurück in unseren Alltag. Im hiesigen Stadtteil gibt es mittlerweile wieder drei und die Resonanz der Grünauer ist enorm. Was gut war, kommt eben wieder…
Drei Stunden (fast) wie früher »Das sind neun Kilo, macht erst einmal 36 Cent für euch«
, Torsten
Lendzian, steht an der großen, nostalgisch anmutenden Waage und drückt mitunter beide Augen zu, wenn es um die Grämmchen
geht. Thomas (14) und Chris (13) - Stammkunden - nehmen ihr Geld und machen sich erneut auf den Weg, um in den Häusern nach
Altpapier zu fragen. »Zweimal in der Woche kommen wir mindestens her«
, erzählt Chris. Zusammen mit dem
Schrott und ein paar Gläsern kommen die Jungs locker auf sechs Euro wöchentlich. Und warum? »Besser als zu Hause
rumsitzen und sich langweilen und das Geld kann ich natürlich auch gut brauchen«
, kommt die prompte und
einleuchtende Antwort des 13-Jährigen. Seit dem 26. September ist Torsten Lendzian nun Betreiber des Papier- und
Wertstoffaufkaufs Leipzig-Grünau im WK 7.
Und seit knapp drei Wochen nimmt er nicht nur Schrott, Metall und Papier entgegen, sondern auch wieder Glas.
»Der Trend geht immer mehr in Richtung SERO«
, erklärt der 33-Jährige. »Ich würde mich nicht
wundern, wenn die Großhändler demnächst auch Lumpen versilbern «
, fügt der Jungunternehmer noch hinzu, bevor er
die nächste Ladung in Empfang nimmt, wiegt, Geld herausgibt und das Papier in einen Zehntonnencontainer wirft. An manchen
Tag, so weiß er zu berichten, stehen die Leute Schlange. »Es kommt vor, dass hier Autos mit Anhängern auf den Hof
fahren, die fast auf dem Boden schleifen, so voll sind die mit Papier. Eine Stunde Abladezeit ist keine
Seltenheit«
, so Torsten Lendzian, der sich obwohl er davon profitiert oft wundert, woher einige Leute das viele
Papier nehmen. Ein Blick in den Container reicht, um zu sehen, was hier alles angeschleppt, beziehungsweise angekarrt wird:
Zeitungen, Werbeprospekte, Kataloge, Telefonbücher und und und.
Eine alte Frau bahnt sich derweil den Weg zur Annahmestelle. Mit einem Rollfix voller Prospekte. Die herzliche Begrüßung
zeigt: Man kennt sich. Mehrmals am Tag komme sie her, und zwar jeden Tag und bei Wind und Wetter. Dass nun auch Flaschen
und Gläser angenommen werden, rentiere sich für sie, obwohl nicht mehr nach Stückzahl abgerechnet wird und es
vergleichsweise wenig Geld pro Kilogramm gibt. »Zwei Cent zahle ich fürs Kilo. Egal ob es Grün-, Braun-, oder
Weißglas ist. Auch die unterschiedliche Vergütung der einzelnen Flaschen- und Gläserarten gibt es nicht mehr wie
früher«
, erzählt der junge Mann aus Grimma. Der Grund ist denkbar einfach: Das Glas wird einfach
eingeschmolzen.
Torsten Lendzian wuselt zwischen Waage, Container, Flaschentonne und Schrottlager hin und her sortiert Pappe aus
Papierbündeln - denn die wird nicht weiterverarbeitet - gibt Auskunft über Öffnungszeiten oder informiert seine Kunden über
das neue Glasannahmesystem. »Naja, gesäubert sollten sie schon sein und wenn möglich farblich sortiert.
Verschlüsse, Korken oder Metallbanderolen müssten vor der Abgabe entfernt werden«
, erklärt er gerade einem
Herren, mittleren Alters. Und langsam wird klar: Hierher kommen nicht nur Leute, die auf jeden Cent angewiesen sind.
Hierher kommt der begüterte Audi-Fahrer oder auch der Geschäftsmann, also jeder, der sein Geld nicht einfach wegwerfen
möchte.
Und noch etwas fällt auf, denn es wirkt zunächst völlig deplatziert zwischen den ganzen Wertstoffen. Ein Bücherregal
steht mitten in der Annahmestelle, vollgestopft mit allem, was die Leute so anschleppen und nach Meinung von Torsten
Lendzian zu wertvoll ist, um zu neuem Papier verarbeitet zu werden. »Hier stehen sogar fünf Bände von
Lenin«
, schmunzelt er und langt in die oberste Regalreihe.
Und dann erzählt er, wie eines Tages eine Frau, den 300 Kilogramm schweren Büchernachlass ihres verstorbenen Mannes
vorbeibrachte. »Das ist gebündeltes Wissen, viel zu Schade eigentlich zum Wegwerfen und darum verkaufe ich es für
20 Cent pro Buch.«
Und dann verrät er noch, dass in seiner zweiten Filiale, in der Bästleinstraße in Schönefeld,
die gesammelten Werke von Marx und Engels auf ihre Liebhaber warten. Nach drei Stunden schließt Torsten Lendzian für heute
seine Annahmestelle in Grünau. Nicht, um sich anschließend zu erholen »dafür sind die Kosten zu knapp
berechnet«
, sondern um nach Schönefeld zu fahren. Denn die haben sicher auch schon wieder jede Menge Flaschen,
Gläser, Altpapier…
Klaudia Naceur