Vom Lindenhof zum Lindenhof
Freie Schule Leipzig zieht nach Grünau
Wochenende in Grünau. Es ist warm - kaum ein Mensch auf der Straße. Glatt könnte man meinen, der Stadtteil verharre gemeinschaftlich im Mittagsschlaf. Wenn da nicht die Betriebsamkeit auf dem Gelände hinter der ehemaligen 83. Grundschule an der Alten Salzstraße wäre. Mitten hinein in die sonntägliche Trägheit hämmert, knallt und bohrt es. Nach dem Auszug des letzten Nutzers war es hier sehr still geworden - auf dem Schulhof und dem angrenzenden Freigelände hat sich die Natur ein Stück Land zurückerobert - meterhoch wuchert an manchen Stellen das Unkraut. Ein wenig abseits von Lärm und Dreck wuseln Kinder um eine alte Tischtennisplatte - reich gedeckt mit allem, was zu einem zünftigen Picknick gehört. Drumherum sitzen ihre Eltern, trinken Kaffee, essen Salat und Würstchen vom Grill, plaudern, lachen und erholen sich von ihrem Arbeitseinsatz.
Auch Sören Kirchner hat heute seine Alltagskleidung als Geschäftsführer eines kleinen Verlages gegen einen Blaumann
eingetauscht und hilft mit, wo er kann. Er ist, wie die anderen auch, aktiver Teil der Elternschaft der Freien Schule
Leipzig, die bislang in Connewitz beheimatet war und nun zu Beginn des neuen Schuljahres ihren Betrieb in Grünau aufnehmen
wird. »Bis es hier losgehen kann, ist aber noch viel zu tun«
, sagt der Vater eines Sohnes, der gemeinsam
mit den anderen Muttis und Vatis in seiner Freizeit Gebäude und Gelände auf Vordermann bringt. Als ob der Umzug einer
Einrichtung vom einen Ende der Stadt zum anderen in so kurzer Zeit nicht schon stressig genug wäre, müssen Schüler, Eltern
und Lehrkräfte zunächst in ihrer Freizeit dafür sorgen, dass die vielen amtlichen Auflagen erfüllt werden.
Da müssen alte Betonsitzblöcke auf dem Hof und Schwellen im Haus entfernt werden, Fluchtwege gilt es nach neuesten
Brandschutzbestimmungen auszubauen, die Treppenhäuser zu sichern und die alten Tafeln abzuflexen. Letzteres war vor allem
für Sören Kirchner eine Genugtuung, wie er lachend beim Rundgang durch die Schule erzählt: »Ich bin in Grünau
aufgewachsen und habe Zeit meines Schülerlebens solche Plattenbauschulen besucht. Für mich war das eine persönliche
Befreiung.«
In der ehemaligen Hausmeisterwohnung werden zukünftig Geschäftsführung und das zehnköpfige
Lehrerkollegium untergebracht sein.
Im Flur des Erdgeschosses steht ein Tisch und dahinter drei Stühle, an der Wand hängen Bauzeichnungen - »die
Bauleitung«
, sagt Kirchner. Vorbei geht es am ehemaligen Rektorenzimmer, Sekretariat, Lehrerzimmer - genau wissen
sie noch nicht, was zukünftig in den Räumlichkeiten passieren soll. Eine Bibliothek vielleicht. Ein Stockwerk weiter oben
steht Christian Rook. Der Vorstandsvorsitzende des Trägervereins und bald dreifache Vater schraubt an den Hebeln der
Kippfenster. Diese müssen so präpariert werden, dass sie sich nicht mehr ganz rumklappen lassen. An den Wänden stehen
komische Zahlen. »Das sind Farbcodes«
, erklärt Kirchner.
Wenn alle groben Arbeiten abgeschlossen sind, rücken die Maler an. Welche Farbe an welche Wand kommt, haben zuvor die
Kinder beschlossen. Als fest stand, dass man die ehemalige Grundschule mieten könne, fuhr die gesamte Schülerschaft -
immerhin 90 Jungen und Mädchen - samt den Lehrern von ihrer Noch-Schule in einer Villa am Lindenhof zu der Stelle in
Grünau, die ganz in der Nähe der ehemaligen Großgaststätte »Zum Lindenhof«
gelegen ist, um sich die
neuen Gegebenheiten anzusehen.
Erst Ende Mai hatten Geschäftsführung und Trägerverein ihre Unterschrift unter den Mietvertrag für die derzeitig
benötigten knapp drei Etagen setzen können. Hinter ihnen liegen vier lange Jahre der Objektsuche. »So schön, wie
unsere Villa in Connewitz auch war, sie platzte allmählich aus allen Nähten«
, berichtet Henrik Ebenbeck. Er stieß
vor 15 Jahren zu dem alternativen Schulprojekt und hat damit beinah die gesamte Entwicklung der Freien Schule als Lehrer
miterlebt, begleitet und mit gestaltet. Trotzdem die Schule bereits 1990 als erste ihrer Art gegründet wurde, befindet sie
sich noch immer in der Aufbauphase. »Wir haben zwar seit langem die Genehmigung, Klassen bis zur Stufe 10 zu
führen, verfolgen dieses Ziel aber erst seit 2005. Seither wächst die Schule mit ihren Schülern«
, erklärt
Ebenbeck. Das und die Tatsache, dass mehr und mehr Eltern und deren Kinder das freie und demokratische Schulsystem, das
uneingeschränkte Selbstbestimmung und Mitspracherecht aller Beteiligten vorsieht, für sich entdecken, wird es eng am
Connewitzer Lindenhof.
Ihr Mittagessen müssen die Kinder im Klassenzimmer zu sich nehmen, Lernutensilien ständig hin- und her geräumt werden,
die Bibliothek ist gleichzeitig auch noch Fernseh- und Besprechungszimmer. »Vor fünf Jahren reifte der Entschluss,
dass wir uns unbedingt vergrößern müssen«
, erinnert sich der Lehrer. Auf die Idee, nach Grünau zu ziehen kam man
damals aber nicht. »Da spielten natürlich auch Vorurteile eine Rolle«
, gibt Sören Kirchner zu. Doch die
waren nicht der primäre und schon gar nicht der einzige Grund, sich nach geeigneten Objekten im Süden umzuschauen.
»Die meisten Kinder kamen und kommen aus der näheren Umgebung. Natürlich wollte man lange Schulwege vermeiden und so
haben wir eine Stadtkarte in Planquadrate eingeteilt und die Eltern auf ihren Spaziergängen jedes in Frage kommende Gelände
oder Gebäude aufgeschrieben. Später haben wir die Möglichkeiten ausgelotet«
, so Ebenbeck.
Sogar komplette Pläne für ein Lehmbau-Projekt oder Strohballenhaus liegen irgendwo fertig in einer Schublade. Vielleicht kommen sie auch irgendwann zum Einsatz, aber momentan ist es illusorisch die dafür nötigen vier bis fünf Millionen Euro Baukosten aufbringen zu können. Rechnet man die Eigenleistung der Helfer heraus, kommt man mit den kleinen und größeren Maßnahmen am neuen Schulgebäude auf gerade einmal ein Prozent dieser Kosten. Ein klarer Vorteil für den Grünauer Standort.
Das ungewöhnlich große Gelände zwischen der S-Bahn-Trasse und der Alten Salzstraße war, nachdem alle Alternativen
verworfen werden mussten, letztlich dennoch ein Wunschobjekt. »Wir sind mit dem Ort wirklich sehr
zufrieden«
, lautet die einhellige Meinung. Sören Kirchner erklärt es ein wenig genauer: »Endlich ist
mehr Platz. Früher hatten wir 600 Quadratmeter zur Verfügung. Jetzt ist es dreimal so viel. Dazu kommt die gute Anbindung,
Kino, Schwimmbad, Shoppingcenter für die größeren Mädels - alles ganz in der Nähe. Ich glaub, die anfängliche Skepsis
hatten größtenteils auch nur die Eltern. Ein paar sind tatsächlich deswegen abgesprungen. Das ist natürlich
schade.«
Die Kinder haben die neue Umgebung schon längst für sich angenommen, auch wenn sich die 13-jährige Dalia zunächst nicht
gleich an die Umzugspläne gewöhnen konnte. Nun hat sie ihre Meinung trotz des weiteren Schulweges revidiert: »So
doof ist es gar nicht«
, sagt sie etwas verlegen und zählt ein paar Vorteile auf. Ihre beiden Freundinnen Nele und
Magdalene nicken eifrig. Die drei Mädels haben am Vormittag in der Küche geholfen. Nun wollen sie ihre Freizeit genießen
und wissen auch schon, wo. Bevor sie schnell wieder in Richtung der nahe gelegenen Skateranlage verschwinden und die ersten
sozialen Kontakte knüpfen, berichtet Dalia von einem Zusammentreffen mit »normalen«
Grünauer Kindern.
»Die sind ganz schön anders als wir«
, sagt sie noch und schon sind die Drei kichernd auf den Weg.
»Normale«
Schüler gäbe es auch dort, wo sie bislang in die Schule gingen, nur sei man sich dort nicht
so häufig begegnet, erzählen die Eltern. So sehr die Besonderheit des pädagogischen Konzeptes die Entwicklung der Kinder
befördern möchte, so ausgeschlossen fühlen sie sich deswegen oftmals unter Altersgenossen. »Wenn meine Tochter
erzählt, dass es in ihrer Schule keine Zensuren gibt, oder dass sie selbst entscheiden kann, was und wie sie lernen will
oder dass alle Kinder gefragt werden, wie beispielsweise der Hof gestaltet werden soll, dann wird sie von den anderen oft
als Lügnerin bezeichnet«
, spricht Christian Rook die Probleme vieler Kinder an. Wie Außerirdische kämen sie sich
stellenweise vor und das nur, weil sie andere Lebenskonzepte erfahren. Dass die Freie Schule darum im dichten Schulnetz in
Grünau falsch aufgehoben sei, glaubt niemand mehr.
Vielmehr versteht sich die Schule als Bereicherung. Auf drei Jahre ist der Mietvertrag zunächst befristet. In der Zeit
wollen sie hier ankommen. Erste Erfahrungen mit den Grünauern haben die Eltern schon gemacht. »Wisst ihr noch?
Unser erster Elternabend hier?«
, fragt Christian Rook die Picknickrunde an der Tischtennisplatte. Die Erinnerung
weckt die müden Helfer und sorgt für Heiterkeit. Anfang Juni empfing die Eltern, die sich zur ersten Zusammenkunft im neuen
Domizil getroffen hatten, ein Einsatzwagen der Polizei. Die Ordnungshüter wurden von besorgten Anwohnern gerufen, die sich
die Ansammlung fremder Leute nicht erklären konnten.
»Das war nicht weiter schlimm, aber wir möchten zukünftig das Verhältnis zu unseren direkten Nachbarn
intensivieren«
, erklärt Sören Kirchner. Er und Christian Rook wohnen mit ihren Familien in der ehemaligen Sudbury
School am Schönauer Park und kennen ein paar Eigenheiten der Grünauer: »Wir gehen mittlerweile völlig
vorurteilsfrei in die kommenden drei Jahre, möchten nicht unser eigenes Süppchen kochen und nicht von allen anderen in Ruhe
gelassen werden.«
Im Gegenteil: Sie wollen sich einbringen, möchten Bestandteil des Stadtteils sowie dessen
Kultur- und Bildungslandschaft sein - so wie sie es bisher in Connewitz waren.