Die Qual der Wahl
Eindrücke aus subjektiver Sicht eines Kandidaten
Wahlabend. Wahlabend bedeutet Spannung, verspricht Überraschungen und kann im Ergebnis Grund zu Freude oder zum Trauern sein. Für mich persönlich, als Vorstandssprecher der Grünen und Kandidat für den Stadtrat, war beides, Grund zur Freude und zum Trauern, zum Innehalten und Nach-vorn-Schauen. Gegen 18 Uhr erreiche ich die Wandelhalle des neuen Rathauses. Überall stehen Vertreter von Parteien, interessierte Bürger und Medienvertreter und warten gespannt auf die ersten Ergebnisse der Kommunalwahl. An diesem Abend beweist sich die Arbeit der ehrenamtlichen Vertreter im Stadtrat und in den Parteien. Bange Fragen sind auf den Gesichtern zu lesen, die gezeichnet sind vom Stress des Wahlkampfes: Wie ist es gelungen, die Ziele der Partei dem Wähler zu vermitteln? Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Wie geht es weiter? Überall stehen Monitore, doch das Hauptspektakel findet im Festsaal statt, wo das Amt für Statistik und Wahlen sofort die neuen Zahlen präsentiert.
Auf dem Weg zum Rathaus hatte ich gemischte Empfindungen. Die Wahlbeteiligung lag etwas höher als beim letzten Mal, die Zahl der Briefwähler war deutlich gestiegen, die Stimmung insgesamt gut, eigentlich kein schlechtes Zeichen und doch bleibt ein mulmiges Gefühl. Wochenlang haben die Wahlkämpfer unermüdlich versucht, Wähler zu überzeugen, Plakate gehangen, Stände organisiert und betreut, Flyer verteilt, immer und immer wieder den Kontakt zum Bürger gesucht - heute nun das Ergebnis ihres Engagements. Dabei darf man nicht vergessen, dass es sich um eine ehrenamtliche Arbeit handelt. Reich wird man als Stadtrat nicht. Als Aufwandsentschädigung gibt es 331 Euro pro Monat für eine Arbeit, die pro Woche im Schnitt mindestens 15 Stunden in Anspruch nimmt. Bei den meisten sogar noch mehr. Für viele Wahlhelfer gibt es gar nichts zu gewinnen. Antreten, Mitarbeiten und dazu beitragen, dass Leipzig irgendwie ein klein bisschen besser wird, ist die Motivation der Meisten.
Schon vorher war klar, dass es wieder nicht gelungen ist, die Wahlbeteiligung über die 50 Prozent zu hieven.
»Schon komisch«
, denke ich, »dass ausgerechnet bei der Wahl, die am konkretesten Auswirkungen zeigt, das Interesse am
geringsten ist.«
Bebauungspläne, die Fragen von Planung und Abriss, die Zukunft des Kulkwitzer Sees, die Schaffung von
Arbeitsplätzen wird nicht in den abstrakten Raumschiffen in Berlin oder Brüssel sondern in Leipzig entschieden. Aber die
Meisten interessiert es dennoch nicht. Die Ausrede, dass man nichts verändern kann, ist viel zu oft auch die bequemere
Alternative.
Zurück zum Wahlabend im Rathaus: Zunächst wird Europa ausgezählt. Ein erster Indikator für die nachfolgende Stadtratswahl. Wir starten gut, liegen dann irgendwo bei 10 Prozent und ich bin ein wenig nervös wegen des noch relativ niedrigen Ergebnisses. Doch dieses rutscht mit jedem ausgezählten Wahlkreis nach oben. Die Stimmung wird besser. Am Ende liegen wir bei der Europawahl bei 13,1 Prozent und damit ein Prozent besser als beim letzten Mal. Die erste Freude, vor allem bei der FDP, und die ersten Enttäuschungen, bei der SPD, sind über die Gesichter gezogen. Ein ständiges Gemurmel ist überall zu vernehmen. Erste Parteivertreter geben Interviews andere stehen mit bedrückten Gesichtern zusammen, analysieren die Lage.
Währenddessen trudeln die Ergebnisse für die Stadtratswahlen ein. Ähnlich wie bei der Europawahl starten wir schwach und steigern uns kontinuierlich. Und mit jedem neuen ausgezählten Wahlkreis nimmt die Freude zu, weil feststeht, dass wir unser Ziel, Stimmen dazu zu gewinnen, erreichen werden. Es ist spät geworden. Nach 23 Uhr hat sich das Ergebnis der Stadtratswahl gefestigt. Inzwischen stehen die Grünen bei über 14 Prozent und wir feiern jedes neue Zehntel. Am Ende werden es 14,7 Prozent sein und damit das beste Ergebnis, das die Grünen in Leipzig jemals erreicht haben. Auf der anderen Seite, bei der FDP ist der Jubel ähnlich groß. Die Stimmungslage bei der SPD pendelt zwischen Enttäuschung und Zuversicht. Auch die Stimmung bei der Linken und der CDU ist bestenfalls mit gemischt zu umschreiben. Zufriedenheit sieht anders aus.
Inzwischen habe ich mit Dresden telefoniert, um zu erfahren, wie dort die Stimmung ist. Auch in der Landeshauptstadt wird gefeiert. Ich bekomme langsam richtig gute Laune und kann meine Freude kaum verbergen. All der Stress in den letzten Jahren, die Anspannung der letzten Wochen, als die Tage selten weniger als 16 Stunden hatten, weicht nun einer Zufriedenheit. Etwas, das man vielleicht als kurzes Glück bezeichnen könnte. Wie ein Sportler haben wir auf ein Ziel hin gearbeitet und feiern nun den Erfolg. Gegen 24 Uhr hat sich das Rathaus merklich geleert und wir sind inzwischen die Ergebnisse in den Wahlbezirken durchgegangen. In Grünau habe ich als Spitzenkandidat das beste Ergebnis seit 1994 für die Grünen geholt, dennoch reicht es nicht für ein Stadtratsmandat. So mischt sich unter die Freude auch wenig Trauer. Am Ende macht sich nach dem Überschwang ein wenig Leere breit. Und so fühle ich mich, als ich das Rathaus verlasse, auf der einen Seite leer und enttäuscht und auf der anderen Seite zufrieden über das exzellente Wahlergebnis.
Aber was heißt das schon, ein gutes Wahlergebnis zu haben? Im Endeffekt geht es doch allen darum, sich für diese Stadt zu engagieren und eigene Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Eigentlich ein schönes Schlusswort, doch für uns ist die Nacht noch nicht zu Ende. Ganz in der Nähe des Rathauses suchen wir noch eine Gaststube auf, beraten bei Bier, Wein oder Wasser das Ergebnis, ziehen erste Schlussfolgerungen und stecken neue Ziele. Irgendwann ist alles vorbei und am nächsten Morgen fühlt sich das Erlebte an, als wäre es bereits in unendlich weite Ferne gerückt; gilt der Blick stets nur dem neuen Tag. Und ich habe in der Abwägung zwischen Gesamtergebnis und meinem persönlichen Ergebnis beschlossen, mich zu freuen und die Augen nach vorn zu richten. Um Politik für Grünau zu betreiben, braucht es keine Mandate. Was es braucht, sind engagierte Bürger, die sich einmischen. Und damit werde auch ich weiter für Grünau aktiv sein und arbeiten, genau wie ich es einst im MDR versprochen habe.
Jürgen Kasek