Grün-As
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»Das war schon 'ne heiße Kiste...«

Erinnerungen eines Grünauers an den Herbst 89

Im letzten »Grün-As« riefen wir Sie dazu auf, uns Ihre ganz persönlichen Erinnerungen an den Leipziger Herbst vor 20 Jahren zu schicken. Leider fand bislang noch keiner den Mut, dies zu tun und so greifen wir kurzerhand auf unsere eigenen Geschichten zurück. KOMM-Haus-Mitarbeiter und Redaktionsmitglied Uwe Walther war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre und wohnte mit seiner Frau Mary und der 5-jährigen Tochter Anne in Grünau. Am 9. Oktober 1989 war er einer von etwa 70.000 Menschen, die ihrer Angst zum Trotz auf dem Leipziger Ring für einen Wandel in ihrem Land demonstrierten und damit einen Teil deutscher Geschichte schrieben.

Frage: Was war der Grund dafür, dass du dich an den Protesten beteiligt hast? Gab es einen Auslöser?

Uwe Walther: Keinen konkreten jedenfalls. Die Lage im Land war einfach total aussichtslos. Man kam sich so veralbert und belogen vor. Auch privat spürte man die Veränderungen - all die Freunde, die aus dem Urlaub nicht zurückkamen oder ausreisten ... Irgendwie war klar: So kann es nicht weitergehen.

War die Ausreise oder Flucht für dich eine Alternative?

Darüber habe ich lange mit meiner Frau diskutiert, bevor ich im Mai 89 zu meiner Tante nach West-Berlin durfte. Da stand die Frage, ob ich dort bleiben sollte, auf jeden Fall im Raum. Wir haben uns dagegen entschieden. Nicht zuletzt, weil wir hier leben und etwas verändern wollten.

War Mary am 9. Oktober dabei?

Nein, auch das war keine einfache Entscheidung. Meine Frau wäre mitgekommen, aber das Risiko, dass uns beiden etwas zustößt, war uns zu groß. Was wäre dann aus unserer Tochter geworden? Die Angst, dass Schlimmes passieren könnte, war also allgegenwärtig.

Wie besiegt man die?

Sukzessive würde ich sagen. Mit meinem Freund Jani war ich schon am 2. Oktober in der Nikolaikirche. An dem Tag haben wir uns noch nicht getraut, mit um den Ring zu laufen. Am 7. Oktober bin ich vor den Wasserwerfern und den Polizeiketten geflüchtet - dieses Geräusch, als die alle mit ihrem Knüppel auf das Schild geschlagen haben, werde ich nie vergessen. Da hatte ich einfach nur noch Angst.

Und trotzdem bist du zwei Tage später wieder zur Nikolaikirche gefahren...

...ja, mit einem sehr mulmigen Gefühl. Am Morgen habe ich mich von Mary und Anne verabschiedet - mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich sie vielleicht 'ne Weile nicht sehen würde. Danach war ich ganz normal auf Arbeit. Ich war damals Betreuer der ausländischen MEGU-Arbeiter im Hochhaus Garskestraße. Am Nachmittag bin ich mit der 15 in die Stadt gefahren - unterwegs hat man schon die vielen Leute gesehen und die Spannung stieg. Jani und ich hatten uns für 15 Uhr in der Grimmaischen Straße verabredet - die Stadt war voller Menschen und es lag ein Knistern in der Luft. Man wusste ja nicht, wer die Leute waren. Jeder hat Jedem misstraut. Überall haben wir Stasispitzel vermutet. Polizei haben wir zu diesem Zeitpunkt nicht gesehen, nur Kampfgruppen - das war irgendwie komisch. Gegen 15.30 Uhr waren wir in der Kirche. Die war so voll, dass wir nur noch auf der zweiten Empore einen Platz fanden. Die eineinhalb Stunden bis zum Friedensgebet machten sich alle gegenseitig Mut, wir sangen beispielsweise.

Waren diese religiösen Rituale für dich als Atheisten nicht komisch?

Klar war das komisch. Die Kirche war für mich ein Anlaufpunkt, wo sich Gleichgesinnte treffen und offen kommunizieren können. Und auf einmal saßen wir dort und sangen Kirchenlieder. Wir konnten ja nicht einmal die Texte und haben praktisch nur mitgesummt oder die Lippen bewegt. Das war auf jeden Fall seltsam.

Habt ihr eigentlich mitbekommen, was sich vor der Kirche ereignet? Habt ihr überhaupt darüber nachgedacht?

Ansatzweise haben wir gehört, dass draußen sehr viele Menschen sein müssen. Da drangen immer mal Geräusche nach innen. Aber diese Massen hätte ich nie vermutet. Als wir nach dem Gebet vor die Tür traten, war ich wirklich überwältigt. Der Karl-Marx-Platz war voll - wir haben auch von der Leipziger Erklärung, die über den Stadtfunk lief, nur einen Bruchteil mitbekommen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung...

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Hast du zu diesem Zeitpunkt gedacht, ihr hättet das Schlimmste überstanden?

Nein, absolut nicht. Die Spannung war noch immer greifbar. Natürlich war die Angst ein wenig in den Hintergrund getreten. Aber am 2. Oktober eskalierte es auch erst am Bahnhof. Wir hatten noch eine lange Strecke vor uns.

Die »Runde Ecke« lag ja auch auf eurer Strecke. Von Vielen wird die Stasizentrale als neuralgischer Punkt beschrieben.

Das kann ich nur bestätigen. Dort war meines Erachtens die Gefahr am größten. Das war schon 'ne heiße Kiste. Unglaublich eigentlich, dass alle so besonnen waren und es zu keiner Eskalation gekommen ist. Als Jani und ich auf Höhe des Dittrichrings waren, haben wir dann noch mal den Aufruf der Leipziger sechs gehört und danach durchgeatmet...

...und gefeiert?

Nein, aus heutiger Sicht ziemlich bizarr: Wir haben uns verabschiedet und jeder ist zu sich nach Hause gefahren. Gefeiert - wenn man das so nennen kann - hab ich mit meiner Frau. Ich glaub wir haben mit einem Glas Wein angestoßen und uns erst einmal gefreut, dass nichts Schlimmes passiert ist.

Wann hat die Erkenntnis eingesetzt, dass das ein entscheidendes Ereignis für die Geschicke des Landes war und wie ging es politisch für dich weiter?

Das hat eine ganze Weile gebraucht, bis das durchgesickert ist. Wie gesagt: Zunächst war da nur Freude, dass es ruhig geblieben ist. Wann die Erkenntnis einsetzte, kann ich gar nicht so genau sagen. Wie ging es für mich weiter? Ich habe in unserer Straße eine Gruppe vom Neuen Forum mitgegründet. Wir wollten nicht nur einfach gegen etwas sein, sondern unsere Zukunft selbst mit gestalten. Auf die Montagsdemos bin ich nicht mehr lange gegangen - nur etwa bis November, als die Wiedervereinigungsfuzzis immer lauter wurden. Das war dann nicht mehr mein Ding. Politisch bin ich aber bis heute aktiv.

Interview: Klaudia Naceur
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