Grün-As

Ungewöhnliches Mieterfest im WK 8

»Was waren das für Zeiten...«

Mieterfeste gehören zu jenen Relikten der DDR-Vergangenheit, an die sich wohl ausnahmslos Jeder gern zurück erinnert. Egal ob Fasching, Weihnachten, ein Geburtstag oder Silvester - an Anlässen schien es nie zu mangeln und auch ein geeignetes Plätzchen, wahlweise im oder vor dem Haus, war schnell gefunden. Gefeiert wurde ausgiebig und ausgelassen - kaum Jemand, der sich nach 22 Uhr wegen Ruhestörung beschwerte oder anderweitig protestierte. Getanzt wurde in den mikroskopisch engen Räumen und am nächsten Morgen halfen irgendwie auch immer alle, das nächtliche Chaos wieder zu beseitigen.

Mieterfeste in funktionierenden Hausgemeinschaften waren legendär, aber leider gibt es heutzutage Letzteres kaum noch und Ersteres demzufolge erst recht nicht mehr. Dass es dennoch Ausnahmen gibt, stellte Ende Mai die Hausgemeinschaft der Brackestraße 44 unter Beweis. Präzise ausgedrückt: die ehemalige Hausgemeinschaft, denn der Elfgeschosser, in dem etliche Jahre der Bär steppte, existiert seit 2006 nicht mehr. Umso erstaunlicher die Idee des einstigen Bewohners Klaus Glatzel, seine damaligen Nachbarn ausfindig zu machen und mit ihnen eine Hausparty auf die Beine zu stellen.

»So wie früher«, sagt der 69-Jährige mit leuchtenden Augen und erzählt von der aufwendigen, dreimonatigen Suche nach der versprengten Bewohnerschaft. Schon einmal war er Initiator einer zünftigen Fete gewesen. Das war Silvester 1984, der erste Jahreswechsel im neuen Zuhause. Glatzel erinnert sich: »Wir wohnten dort noch nicht lange. Niemand kannte sich. Natürlich grüßte man und wünschte guten Tag und guten Weg, aber ansonsten war jeder für sich. Nun saßen wir also am 31.12. allein in unserer Wohnung und da hab ich zu meiner Frau gesagt: 'Lass uns mal durchs Haus gehen und uns vorstellen.'« Gesagt getan.

Klaus Glatzel greift sich seine »Quetsche« - eine Knopfharmonika -, seine Frau eine Trommel mit Schnapsgläsern und so ziehen sie von Tür zu Tür, klingeln, stellen sich vor, nehmen einen Kurzen, musizieren und tanzen im Vorraum zwischen den Aufzügen. Der Plan geht auf. »Es wurden von Wohnung zu Wohnung immer mehr Leute, wir hatten jede Menge Spaß und am nächsten Morgen sind wir gemeinsam zum Kulki spaziert. Seit dem waren wir eine richtige Hausgemeinschaft.« Fünf Jahre ungetrübten Hausgemeinschaftslebens lag vor den Bewohnern der Bracke 44. »Wir haben so viel erlebt. Ich glaube, es gibt kaum Vergleichbares«, sagt Klaus Glatzel über diese Zeit. Von den obligatorischen Grillfesten über Kindergeburtstage, Fasching und Silvester bis hin zu Herrentagsausflügen in die nähere Umgebung. Die »Quetsche« war immer dabei.

Davon zeugen nicht zuletzt unzählige Fotos, die das gesellige Leben der insgesamt 30 Mietparteien dokumentieren. »Das Schöne«, betont Klaus Glatzel »war, dass es keinerlei Standesdünkel gab. In unserem Haus wohnte der Professor neben dem Schlosser, der Staatsanwalt neben dem Maler und alle haben sich gut verstanden. Das gibt es heute gar nicht mehr und man kann es auch irgendwie nicht erklären«, meint der ehemalige Bauleiter und sinniert noch lange seinen Worten nach, bevor er noch einmal bekräftigt: »Wir waren eine Gemeinschaft und wir sind es geblieben - über die Wende hinaus.« Im Jahr des politischen Wandels und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderung, schafften sich die Bewohner der Brackestraße 44 noch einen letzten gemeinschaftlichen Höhepunkt: Die Einweihung ihrer eigenen Kellerbar mit Lichtanlage, Barhocker und allem, was sonst noch dazu gehört.

Ein Jahr Arbeit steckte in dem guten Stück und einige feucht-fröhliche Abende durfte sie noch erleben, bevor die liebevoll zusammengestückelten Deckenlampen wieder verlöschten. Denn obwohl bis zum Abbruch des Elfgeschossers weitere zehn Jahre vergehen sollten, war der Zerfall der Hausgemeinschaft schon 1990 besiegelt. »Immer mehr zogen aus und dafür kamen Neue hinzu - bis es irgendwann gar nicht mehr passte.« Klaus Glatzel wirkt nachdenklich. Er verlor nach der Wende seine Arbeit und lebte mit seiner Frau noch vier Jahre im Haus mit der Auszeichnung »goldene Hausnummer«, bis auch sie 1993 wegzogen. »Aber Grünau hat mich nicht losgelassen. Nach zwei Jahren sind wir zurückgekehrt. Jetzt wohnen wir im WK 4 - wieder im Elfer«, lacht der agile Rentner mit der ansteckenden guten Laune. »Weil die Aussicht einfach unschlagbar ist«, ergänzt er noch.

Der Abbruch des Hauses, in dem er und seine Nachbarn so schöne Jahre verlebt hatten, tat ihm weh. Verfolgt hat er ihn dennoch. Einige von ihnen wohnten bis zum Schluss dort, die meisten jedoch waren schon längst ausgezogen, mit manchen waren die Glatzels immer in Kontakt, andere habe man hier und da getroffen. Die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse stand dabei meist im Mittelpunkt. »Mensch, was waren das für Zeiten!« ... »Irgendwann hatte ich dann die Idee dass man sich doch noch einmal treffen müsste und fing an, zu recherchieren, wo die Leute alle abgeblieben sind«, erzählt der Hobbyfotograf und -filmer. Gesucht wurden alle Erstmieter im Telefonbuch, via Internet, durch persönliche Kontakte und mit Zeitungsannoncen. Gefunden wurden 21.

»Eine Dame war leider verstorben, acht ehemalige Nachbarn konnten wir nicht ausfindig machen«, so das Resümee der vierteljährlichen Nachforschung. Schnell stand fest, dass man sich treffen wolle und zwar an Ort und Stelle - auch wenn es statt gemütlicher Bar im Partykeller »nur« die Bierzeltgarnitur auf der Wiese ist. »Der Ort war wichtig und darum sollte die Feier auch genau dort stattfinden«, so der Initiator. Helfer fand er schnell und als alle Einladungen verschickt waren - die weitesten nach Meißen und Dresden, die meisten jedoch innerhalb Grünaus - geschah etwas, das dem Mann mit dem scheinbar stets lachenden Gesicht, die Tränen in die Augen spült:

Grund dafür ist das Ehepaar Halfahrt, das ausgerechnet am 29. Mai, also am Tag des geplanten Festes, seine diamantene Hochzeit begeht. »Das muss man sich mal vorstellen«, erzählt Klaus Glatzel ganz gerührt. »Die Beiden wollten tatsächlich lieber zu unserer Party kommen.« Der »Quetschenquäler« strahlt, wenn er nur an diesen Samstag denkt. Natürlich seien alle ein wenig älter geworden und 21 Uhr - nach Kaffee, Kuchen, Grillwurst, ausführlicher Wiedererkennung und langer Vergangenheitsbewältigung mittels moderner Diashow - sei man auch ohne Tanzgelage glücklich nach Hause gegangen. Aber eine Frage hat er so oft gehört, wie noch nie: Wann treffen wir uns wieder?

Klaudia Naceur
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