Grün-As

Die S-Bahn sagt »Auf Wiedersehen«

Proteste erfolglos: Zweckverband entscheidet gegen die S1-Linie Grünau-Hauptbahnhof / Vorerst letzter Zug soll am 29. April rollen

Knapp 10.000 Grünauer Unterschriften haben die erwartete Entscheidung nicht verhindern können: Die S-Bahn-Linie 1 wird bis zur Eröffnung von Citytunnel und neuem Netz ausgesetzt. Das beschlossen die Mitglieder des Zweckverbands für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL) in ihrer Versammlung am 16. Februar. Durch den rigiden Sparkurs der sächsischen Landesregierung (Grün-As berichtete) war ein heftiges 6-Millionen-Euro-Streichkonzert im Nahverkehr nötig geworden. Die Mitglieder des ZVNL - das sind die Stadt Leipzig und die beiden Landkreise Leipzig und Nordsachsen - standen vor einer unangenehmen Situation:

Über ihnen schwebte das aus Dresden gelieferte Damoklesschwert, und die Vertreter selbst »durften« entscheiden, über wem es hernieder saust. Das größte Opfer ist aus Leipziger Sicht die S 1. Man kann das freilich auch anders sehen: Denn während die Grünauer ihre S-Bahn-Linie, integriert im schönen neuen Netz, wohl zurückbekommen - im wahrsten Sinne ein Licht am Ende des Tunnels - sind andere Beschneidungen wohl dauerhaft. Oschatz verliert mit der Döllnitzbahn sowohl eine Tradition als auch eine Attraktion. Die überregionale Bahnverbindung ins Vogtland bis nach Hof beginnt künftig erst in Altenburg. Die Liste ist noch viel länger.

»Wir sind tief enttäuscht, insbesondere von Herrn Morlok«, sagt Martin Malzahn von der hiesigen Bürgerinitiative. Der Wirtschaftsminister habe mehrfach Briefe und Einladungen ignoriert und sich verleugnen lassen. »Über die Köpfe vieler Bürger hinweg wurden in kürzester Zeit vollendete Tatsachen geschaffen. Die Verantwortung liegt ganz klar beim Freistaat«, sagt Malzahn, der allerdings an anderer Stelle auch Positives mitnimmt: »Die Resonanz der Grünauer ist überwältigend.« Und die Stadtverwaltung habe sich letztlich doch für Grünau engagiert, wenn auch erfolglos.

Wie ehrlich das Bekenntnis der Stadt zur S1 ist, ist jedoch fraglich. Denn den Leipziger Vertretern im ZVNL dürfte klar gewesen sein, dass ihre Stimme gegen die zwei der Landkreise wertlos ist. Stadtrat Dietmar Kern hatte Grün-As gegenüber Verständnis für das Kürzungspaket geäußert - die Kürzungen seien notwendig, machten bei der S1 wegen Dauerbaustellen und alternativem Straßenbahnangebot eben mehr Sinn als anderswo. Politische Willensbekundungen, etwa die von Oberbürgermeister Jung, waren garniert mit Formulierungen der Art »Wenn es aber nicht klappt, dann...«.

Fakt ist nämlich: Ein anderes Votum hätte sich der ZVNL nicht leisten können. Eine Ablehnung wäre technisch zwar möglich gewesen, erläutert ZVNL-Geschäftsführer Andreas Glowienka. Dies wäre aber mit etlichen Unwägbarkeiten, zumal unter enormem Kostendruck, verbunden gewesen. Hatten sich also die Leipziger Vertreter im Einzelnen gegen die S1-Aussetzung ausgesprochen, stimmten sie später mangels probater Alternativen dem Gesamtpaket zu. Trotzdem verbreiten Medien seither regelmäßig Anfeindungen zwischen Politikern aus Stadt und Landkreis.

Abseits dieser politischen Scharmützel betrauert Grünau die praktische Verbindung, die nicht selten als »Rückgrat des Viertels« bezeichnet wird. Thomas Neitemeier, der unweit der Jetzt-Noch-Endstelle Ärztehaus und Apotheke betreibt, sagt: »Die S-Bahn ist eine superschnelle zentrale Achse mit Halt immer direkt an den Fußgängerzonen.« Die anderen Verkehrsträger könnten dies so nicht leisten, zumal bevorstehende Bauarbeiten in der Lützner Straße Grünau gleich doppelt von der Innenstadt isolieren.

Das trifft auch die Kulturschaffenden des Theatriums im WK 2 hart: »Unser Standortwechsel ins Zentrum Grünaus wurde auch mit der besseren Erreichbarkeit begründet. Das wird wohl durch die zu erwartenden Einschnitte ad absurdum geführt«, sagt Erik Hofmann. »Wir schauen besorgt auf die nächsten Jahre und hoffen, dass es den Verantwortlichen gelingt, die Wegfälle zu kompensieren, damit uns in Stoßzeiten auch größere Gruppen komfortabel erreichen können.«

Besagte Verantwortliche haben immerhin schon einen Plan für einen reibungslosen Übergang, gibt Glowienka bekannt. Am 29. April soll die vorerst letzte S-Bahn durch Grünau rollen, danach sofort der Ersatz greifen. Abfindungen an den Betreiber DB Regio konnten durch Verhandlungen vermieden werden - denn auch für die Deutsche Bahn ist der gänzliche Verzicht auf Bedienung sinnvoller, als am Vertragsminimum nur einzelne Züge ohne regelmäßigen Takt nach und durch Grünau zu schicken. Wenn das vertragliche Fundament festgezurrt ist - offensichtlich ein schwieriges Rechtsgebiet - bekommen die Leipziger Verkehrsbetriebe laut Angebotsplaner Eduard Flacker ZVNL-Gelder für ein Paket an Ersatzleistungen (siehe nächste Seite).

ZVNL-Geschäftsführer Glowienka und LVB-Angebotsplaner Ekkehard Westphal betonen: »Wir wissen, dass das Angebot niemals so gut sein kann wie mit der S-Bahn.« Weil das so ist, haben sowohl Bürgerinitiative als auch Zweckverband die Flinte noch nicht ins Korn geworfen. »Wenn wir aufhören, begehen wir Verrat an den engagierten Grünauern«, sagt Malzahn, der die lange Unterschriftenliste als Auftrag versteht und eine aktive Weiterarbeit ankündigt: Neuerliche Briefe und Einladungen nach Dresden sind geplant, weitere Foren denkbar.

Auch ZVNL-Chef Glowienka »sucht seit Wochen das Gespräch mit der Landesregierung« - bisher erfolglos. Dabei spräche laut Glowienka wegen Änderung der finanziellen Rahmenbedingungen für die Zweckverbände einiges dafür, den Kuchen innersächsisch anders zu verteilen. Die aktuelle Finanzausstattung sei »ungerecht« und gereiche der Region Dresden zum Vorteil. Das Modell regionaler Zweckverbände gehöre auf den Prüfstand, überhaupt sei wenig sinnvoll, dass Geldzuweisung und Organisation strukturell voneinander getrennt sind. Die entscheidende Wahl, bei der den Stimmberechtigten aber letztlich gar keine Wahl blieb, bestätigt diese These.

Reinhard Franke
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