Grün-As

So viel Heimlichkeit

Aus meiner Kriegskindheit ist mir eine Geschichte in Erinnerung, die in einer Vorweihnachtszeit, die ich mit meiner Großmutter Tuta verbrachte, passierte. Eines Tages nahm sie mich mit nach Schneiderende in der Elchniederung, richtig in den Ort, und nicht nach weit draußen im Wald, wo wir den Spätherbst in einer Bauernhütte verbracht hatten.

Bei der Ankunft war ich in die Jauchengrube gefallen, und später hatte mir der Hofhund mein Ohr angerissen, als ich in seiner Hütte lag, von ihm gewärmt, aber doch vom Bauern herausgezogen wurde. Der Hund hatte mich behalten wollen und am Ohr festgehalten mit seinen Zähnen. So zerrten dann zwei von unterschiedlichen Seiten. Das Ohr riss ein, aber der Bauer blieb Sieger. Das Ohr war längst verheilt, und auf dem Torfwagen durfte ich mit in den Ort. Da war am Dorfplatz ein Geschäft, in dem es viel, viel tausend Stück und mehr Spielsachen zu sehen gab, dünkte es mir in kindlicher Einfalt!

Aber in all der Fülle von prächtigem Zeug, das mich umgab, sah ich nur eins, ein einziges Etwas: eine hölzerne Kuh auf Rädern aus Holz, die grau aussah und an der einen Seite einen schwarzen Fleck hatte. Bis heute kann ich es mir nicht erklären, wieso gerade sie es war, die meine Augen auf sich zog und die ich mit begehrlichen Blicken betrachtete. Als wir aus dem Laden fortgingen - wir waren nur hingegangen um etwas anzuschauen, nicht um zu kaufen, denn man muss wissen, dass Großmutter Tuta nicht sehr reich war. Sie arbeitete als Schneiderin und deshalb konnten wir bei einem Bauern wohnen, während Großmutter für diesen und für andere im Ort nähte, das war damals, kurz nach dem Beginn des später als 2. Weltkrieg bezeichneten Kriegsbrandes so üblich - also, als wir aus dem Laden fortgingen, konnte ich es nicht lassen, mich noch einmal nach »meiner Kuh«, so nannte ich sie bereits in meinen Gedanken, umzuschauen. Sie sah mich gleichfalls an, als wollte sie sagen: »Nimm mich doch mit.«

Es ging immer mehr auf Weihnachten zu und Großmutter Tuta bekam nun auch Aufträge aus Nachbarorten. Wir würden wohl über Weihnachten hier bleiben, hatte sie gesagt, und mich wieder einmal mitgenommen nach Schneiderende. Dort sah ich »meine Kuh« erneut und begegnete ihr immer wieder in meinen Träumen. Aber seltsam war es schon, dass ich oft, wenn ich am Abend hinauf in die Kammer stieg, in der wir schliefen, Heu auf den Stufen sah. Heu? Wie kam das Heu in das Haus? Es lag doch in der Scheune und nach der Fütterung auch manchmal auf der Tenne. Aber im Haus?

Großmutter machte ein bedenkliches Gesicht, wenn ich sie danach fragte. »Da wird der Weihnachtsmann im Haus gewesen sein. Er schaut schon nach, wo artige Kinder wohnen. Vielleicht hat er das Heu verloren...« Da geriet ich ganz durcheinander. Was sollte der Weihnachtsmann mit dem Heu machen? Er würde seine Elche doch draußen füttern und nicht im Haus! Dann aber verstand ich es plötzlich. Am späten Nachmittag, wenn es begann zu dunkeln, trafen sich Bäuerin und Gesinde in der großen Stube bei Kerzenlicht und Petroleumlampe. Sie führten Handarbeiten in diesen »Schummerstunden« aus, die sie auch ohne Licht hätten machen können. Auch Oma Tuta war dabei und weil sie eine sehr schöne Stimme hatte, begann sie immer die Lieder zu singen, in die dann alle einstimmten. So sangen sie sehr oft das Lied über die Geburt des Christkindleins: »Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh!« Sollte das Christkind in unserer Kammer gewesen sein und das Stroh verloren haben? Oma Tuta zuckte nur die Schultern, wenn ich sie danach fragte, und die Magd Frieda kicherte und stieß die Alma in die Seite, ehe sie davon trullerten. Aber der Tag kam, da sollte sich alles aufklären mit dem Heu auf der Treppe.

»Stille Nacht, heilige Nacht«, sangen sie drinnen, als der Bauer die Doppeltür zur »guten Stube« aufstieß und uns Kinder zum wunderschön geputzten Tannenbaum mit flackernden Kerzen eilen ließ. Gepolter von draußen unterbrach die Gesänge und Bauer wie Knecht ergriffen starke Stöcke, die an der Wand lehnten. Sie holten aus damit, wie zum Schlage gegen die Eingangstür. Im nämlichen Augenblicke klopfte es stark an der Tür und der Bauer fragte mit drohender Stimme: »Wer klopft so spät und stört die Stille?« Von draußen antwortete eine tiefe Stimme: »Knecht Ruprecht ist's, es ist sein Wille den Kindern frohe Zeit zu bringen, dann könnt ihr alle weiter singen.«

»Tritt nur herein, du guter Mann, der allen Menschen wohlgetan«, antwortete nun wieder der Bauer. »Komm näher nun mit deinen Sachen, die kleine Leute glücklich machen.« Damit wurde die Tür aufgestoßen und der leibhaftige Weihnachtsmann trat herein, begleitet von seinen Helfern, die die Geschenke trugen und sie vor den Leuten herinnen ausbreiteten. Jeder wurde namentlich genannt, erhielt mit einem Spruch sein Geschenk und durfte es auspacken. Als ich an der Reihe war, bekam ich heiße Ohren und hatte natürlich mein Weihnachtsgedicht längst vergessen. Oma Tuta wollte helfen und forderte mich auf, ein Gedicht aus meinen Bilderbüchern aufzusagen, worauf mir nur einfiel: »Ach, Weihnachtsmann, du tust mir leid, vorüber ist bald deine Zeit...« Weiter wollte mir nichts einfallen. Jetzt erhielt ich mein Geschenk.

Mit erwartungsvoll strahlendem Gesicht, wie das bei allen Kindern so ist, die im Frieden und in der Obhut sie umgebender Menschen Weihnachten feiern dürfen, packte ich es aus. Heu, Heu, Heu kam zum Vorschein. Und ganz zu unterst »meine Kuh«! Nun wusste ich, wie's zugegangen war: Der Weihnachtsmann, der allen Leuten, auch den Kindern, ins Herz sehen kann, hatte meinen Herzenswunsch erfüllt, mir die heißersehnte Kuh beschert, eine Flasche ihrer Milch hinzu gefügt und natürlich auch Heu zum Füttern, damit sie auch weiterhin kräftig Milch geben kann, die dem kleinen Micke Kraft zum Wachsen gibt. Und ich Schlaumeierchen war dem Weihnachtsmann doch auf die Schliche gekommen. Er hatte das Heu auf den Stufen verloren, aber ich hatte es aufgehoben, oben in der Kammer. Das würde einen Becher voll Milch mehr ergeben.

Die Bauersleute und Oma Tuta haben es dabei gelassen, dass ich die Geschichte so sah und nicht anders. Sie hatten noch den unsagbar wichtigen Sinn für Heimlichkeiten, der inzwischen vielen Leuten verloren gegangen ist. Schade drum! Zweimal schade, wenn man selbst einmal erlebt hat, was für ein zusätzliches Geschenk sie sind. Die Heimlichkeiten. Und jeden künftigen Tag war etwas mehr von dem Heu verschwunden, aber ein voller Becher Milch stand auf dem Frühstückstisch, bis wir Schneiderende verließen und nach Königsberg zurück fuhren. Aber so schlimm es später auch immer wurde, Oma Tuta hat die Heimlichkeiten stets aufs Neue belebt...

D.-E. Mickeleit
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