»Man achtet plötzlich auf jedes Detail«
Theatrium geht mit Mehrgenerationenprojekt vor die Tür
Die Spannung ist beinah greifbar, als sich am Abend des 13. April das Foyer des Theatriums mit Besuchern füllt. Das könnte zum einen am Thema liegen,
schließlich handelt das neue Mehrgenerationenprojekt des Kinder- und Jugendtheaters »Im letzten Augenblick«
vom Tod. Um genau zu sein
von vielen Todesfällen ganz verschiedener Menschen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und doch so eng verwoben sind, wie der Abend zeigen wird.
Und noch etwas trägt zur Neugier und Spannung bei: Die Zuschauer verfolgen die Geschehnisse nicht wie üblich von einem Sitz im Theatersaal aus, sondern sie
folgen im wahrsten Wortsinn.
Projektleiterin Sandra von Holn erklärt den Ablauf des so genannten Silent Walk, bei dem das Publikum still von einem Auftritt zum nächsten geführt
wird, bevor sie das kleine Grüppchen zur ersten Szene entlässt. Interessiert, aber auch leicht verunsichert drängen sich die knapp 20 Besucher auf die
Bühne des Theatriums. Die Kulisse ist eindeutig: Ein Sarg - darauf das Bild eines jungen Mädchens. Daneben trauernde Angehörige und Freunde. »Das
war irgendwie irritierend«
, wird später die Mutter der Darstellerin sagen, die mit ihrem Mann zur Aufführung gekommen ist. Ihre Tochter hatte
ihnen zuvor nicht viel verraten. Die Gedenkfeier für die 14-jährige Luise, der auf einer Party Extasy ins Getränk gemischt wurde, ist ein äußerst
bedrückender Einstieg. Benommen kommen die Zuschauer der Aufforderung nach, der Familie zu kondolieren.
Fortan bewegt sich die Geschichte rückwärts: Nächster Schauplatz ist die verhängnisvolle Party. Danach geht's an die Luft und auch dort lauert
der Tod. Sei es angedeutet durch herumliegende Kleidungsstücke, die auf eine Vergewaltigung hindeuten oder durch eine Schlägerei unter Jugendlichen.
Während die Zuschauer von Szene zu Szene laufen, begegnen sie immer wieder einem oder mehreren der insgesamt 24 Schauspieler, fangen Gesprächsfetzen auf,
die für den weiteren Verlauf des Stückes von Interesse sein könnten und schärfen ihre Wahrnehmung:
»Man achtet plötzlich auf jedes Detail«
, so das Zwischenfazit einer Anwesenden.
Das ist auch unbedingt so beabsichtigt bei dem Stück, welches zum Jugendkunstpreis Sachsen eingereicht werden soll. Denn oft sind es eben jene Kleinigkeiten, die einen Moment komplett verändern und damit über Leben und Tod entscheiden können. Kleinigkeiten, wie der Verlust einer Handtasche, in dem ein Handy unaufhörlich klingelt. Ein Anruf der Transplantationsklinik, die das dringend benötigte Herz für die Tochter der Handtaschenbesitzerin letzten Endes an ein anderes Kind auf der Liste vergibt. Oder der sehr beeindruckend wiedergegebene Streit zweier Schwestern im Friseursalon über den die Kundin unter der Frisierhaube vergessen wird und dadurch den Tod findet.
Was geschieht, wenn sich nur kleinste Nebensächlichkeiten einer Begebenheit verändern, erfahren die Zuschauer, als die Geschichte nach einer kurzen
Pause in umgekehrter Reihenfolge wieder ihren Anfang nimmt. Da wird die Handtasche gefunden und ihrer Besitzerin übergeben, die zehnjährige Silvie erhält
ihr Herz und überlebt. Was zwar den Tod des anderen Kindes bedeutet, Silvies Vater aber so glücklich macht, dass er in der
»Kleinen Kneipe«
seinem Kumpel Horst einen ausgibt. Dieser erleidet daraufhin einen Schlaganfall und stirbt. Zeuge der Szene im Lokal,
die im Übrigen in der realen Gaststätte mit realen Gästen spielte, war auch der Vergewaltiger mit seiner Mutter, die aufgrund der Ereignisse davon abkam,
ihren Sohn mit seiner gestörten Sexualität zu konfrontieren, was wiederum dazu führte, dass dieser nicht zum Täter wurde.
Horst greift zuvor auch in einen anderen Handlungsstrang ein: Als er sich im Salon Räder (ebenfalls am Originalschauplatz in der Grünauer Allee) einen Termin geben lässt, rettet er damit indirekt das Leben des Frisierhaubenopfers, die ihrerseits ihrer Freundin zu Hilfe eilt, welche sich völlig vereinsamt und unverstanden mit Tabletten und Alkohol das Leben nehmen will. Sie ist obendrein als Schutzengel zur Stelle, als die Schlägerei der Jugendlichen eskaliert. Das damit dem Tod entronnene Mädchen geht mit Luise zur Party und passt auf deren Glas auf ... Eine - trotz der beklemmenden Thematik - geschickte Inszenierung, die nicht zuletzt durch die schauspielerische Leistung der größtenteils jungen Darsteller, die vielen Aha- und Überraschungsmomente sowie die außergewöhnlichen Aufführungsorte überzeugte.
Klaudia Naceur