Editorial
Gummibärchen in der S-Bahn
Liebe Leserinnen und Leser, ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen, welch überzeugte Individualverkehrsteilnehmerin ich doch eigentlich bin. Aber es gibt Tage, da müssen es eben auch mal die Öffentlichen sein. So, wie an einem Abend im März. Und was ich da erlebt habe, hat mir den Glauben an die Gemein schaft zurückgegeben, auch wenn der Anlass eher tragisch war.
An jenem Abend also beschloss ich kurzerhand, meinen Heimweg in die Südvorstadt nicht wie gewöhnlich mit dem Rad zurückzulegen, sondern ich versprach dem müden Söhnchen eine
»Abenteuerfahrt«
mit der S-Bahn. Er freute sich und ich war gänzlich ahnungslos, dass sie dies tatsächlich werden sollte.
Kaum eingestiegen, blieb die Bahn nämlich nach dem Halt Grünauer Allee plötzlich ruckartig stehen - alle Lichter gingen aus - es bewegte sich nichts mehr. »Wird bestimmt bald
weitergehen«
, beruhigte ich den kleinen Mann an meiner Seite. Der fand das Ganze noch ziemlich lustig. Mama hatte ja schließlich ein Abenteuer versprochen. Die Durchsage nach zirka 15 Minuten verhieß
jedoch nichts Gutes. »Vorkommnis auf der Strecke. Die Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit«
, klang es blechern aus den Lautsprechern. Hm.
Gemeinsam mit einem Potpourri von Fahrgästen harrten wir also aus. Im Dunkeln. Mitten auf der Strecke bei geschlossenen Türen. Erste Gespräche bahnten sich an. »Wo wollen Sie denn eigentlich
hin?«
»Kriegt man die Tür denn überhaupt nicht auf?«
»Ach der arme Junge. Der langweilt sich doch sicher!«
Und wie er sich langweilte.
Der Spaß am Abenteuer hatte sich spätestens nach einer Stunde erledigt. »Ich habe Hunger und Durst.«
»Ich habe doch aber nichts mit«
. »Ich bin müde.«
»Dann leg dich doch ein bisschen auf die Sitze.«
»Ich will nicht hier eingesperrt sein.«
»Ich auch nicht.«
Mit meiner Not, war ich jedoch nicht die
Einzige. Neben mir saß ein Pärchen, deren kleine Tochter alleine zu Hause war - ständiger Kontakt via Handy ließen mich das erfahren.
Hinter uns gickelten ein paar Jugendliche - für sie war es definitiv noch Abenteuer, eine alte Dame erzählte erstaunlich gelassen, dass sie nun ihren Flieger verpassen würde - worauf sie allseits tiefes
Mitgefühl erntete. Gerade als das Söhnchen ein Stakkato von »Hunger«
-Rufen anfing, näherte sich die Rettung in Gestalt eines jungen Mannes.
Eben jener, den ich zuvor auf dem Bahnsteig argwöhnisch beäugt und innerlich als »suspekt«
abgehakt hatte, hielt freundlich lächelnd einen Keksriegel in seiner Hand - was für eine
Heldentat. Auch die gickelnden Hühner von hinter uns bemühten sich irgendwann emsig um den »armen Kleinen«
, irgendjemand kramte Gummibärchen hervor. Das Söhnchen kaute selig Süßigkeiten,
alle anderen plauderten als ob man sich auf einer Ferienfahrt mit lauter uralten Freunden befinden würde.
Jung, alt, mittellos, gut situiert, Deutsche, Ausländer - keine Oberflächlichkeiten zerstörten die Kommunikation in dieser Zwangsgemeinschaft an jenem Abend. Wenn der entsetzliche Unfall eines 13-jährigen Jungen, der beim Spielen an die Oberleitung der Bahn kam und damit das gesamte Netz über Stunden lahmlegte nicht der Auslöser für dieses Erlebnis gewesen wäre, hätte ich es ganz sicher in den Schubkasten für glückliche Erinnerungen gepackt.
So aber ist es immerhin die Erkenntnis, dass die Gesellschaft doch noch nicht so krank ist, wie es oftmals den Anschein hat.
Ihre Klaudia Naceur