Vom Heimischwerden der Pfützenplanscher
Schwarz-Weiß-Aufnahmen erzählen vom heranwachsenden Grünau
»Besucher dürfen das Gelände nur mit Genehmigung des Betriebsdirektors besuchen.« Blafft es vom Plakat. Und die Ermahnung: »Unbefugte Entnahme von Baumaterial wird bestraft.« Wer in den 80ern nach Grünau kommt, muss sich auf Neuland einstellen. Unter den Füßen. Und im Kopf.
Harald Kirschner (Jahrgang 1944) hat endlich einen Zuweisungsschein für eine Wohnung. Mit Frau und zwei Kindern weg von Ofenheizung und Klo auf halber Treppe hinein ins ferngeheizte Hochhaus-Atelier auf 130 Quadratmeter für 200 (DDR)-Mark. Fotografenlehre und Studium hat er erfolgreich absolviert.
Mit dem Diplom in der Tasche und dem Mitgliedsausweis im Verband Bildender Künstler soll's jetzt beginnen: Sein Leben als Familienvater, als freiberuflicher Fotograf, als Grünauer. »Fotografieren und Filmen ist nur mit ausdrücklich schriftlicher Genehmigung gestattet. Zuwiderhandlungen ...« Er ist noch nicht einmal richtig angekommen, da wird er bereits ausgebremst. Und doch will er sie kennen lernen, die hier mit ihm wohnen, leben, lieben. Sich hier einrichten.
Im Eigenauftrag macht er die ersten Fotos. Schwarz-weiß. Kleinbild. Entwickelt im eigenen Labor. In der Tradition der Straßenfotografie seiner großen Vorbilder Henri Cartier-Bresson, Robert Frank, Walker Evans. Sieht sich als Beobachter des Alltags. Authentisch. Ungeschönt. Als Chronist. Als Bewahrer des Augenblicks. Und Niemand stört sich dran.
Schon hat er sie vor der Linse – die unverkrampft in Regenpfützen planschenden Kinder. Unbefestigte Matschwege. Akrobatische Turnversuche auf zurück gelassenen Kabeltrommeln. Aber er hält auch fest, wie die Dinge sich zu entwickeln beginnen. Das Pionierspalier zum Schulanfang. Das Müttertreffen auf dem Spielplatz. Das Anlegen der ersten Vorgärten. Und fängt ein, was der Grünau-Alltag an Kuriosem hervorbringt: Den im weiträumig umzäunten Car-Port sicher geparkten Trabi des Hausmeisters der Klinger-Schule. Einen Chor junger Pioniere und ein Blasorchester, die einen Arbeitseinsatz von FDJlern an der Völle begleiten: Subbotnik. Eine Wartburg-Leiche in der Straße der Jugend...
Er zeigt sie nicht zum ersten Mal, diese Fotos. Hat 2006 bei Pro Leipzig schon einen Bildband »Grünau-Fotolesebuch« veröffentlicht. Und seine Arbeiten im Zeitgeschichtlichen Forum ausgestellt. Bilder, die heute so nicht mehr entstehen würden. Denn Straßenfotografie ist weltweit in der Diskussion. Das Recht am eigenen Bild drängt sich in die Debatte. Unbeschwerte nackte Pfützenplanscher zu fotografieren – heute unmöglich.
Auch wenn im Gästebuch steht: »... Für die gesunde Entwicklung heutiger Großstadtkinder wären diese Abenteuer ein Segen ...« Und auch: »... Ich habe mich in der Bilderwelt meiner Jugend wohlgefühlt.« Harald Kirschner selbst hält sich mit erklärenden Untertiteln zurück. Aber der Berliner Architekturkritiker Wolfgang Kil, von dem auch der Titel stammt, hat einen einfühlsamen Text zu den Bildern geschrieben. Auf gegenüberliegenden Bildbandseiten sind die Fotos bewusst zusammengestellt. Korrespondierend. Widerstreitend.
Seine Fotos erzählen eigenständig. Jeder Betrachter hat seinen eigenen Freiraum. Mag sich erinnern. Sich empören. Sich wundern. Oder sich auf einem der Fotos selbst erkennen. Wie die junge Frau während der letzten Lesung in der Bibliothek Mitte: »Das kleine Mädchen, hier links im Bild – das bin ich!« Und lässt sich einen Bildband vom Autor signieren. Mit sich im Reinen.
Nun, im Dezember 2014, druckt der Mitteldeutsche Verlag »Vom Heimischwerden«. Und Harald Kirschner findet nach all dem Auf und Ab, Für und Wider Grünau diesen Titel angemessen. Ist selbst angekommen. Heimischgeworden.
Silke Heinig