Grün-As
Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Mordshunger

Eine Mord- und Heimatgeschichte des Grünauer Autors Jürgen Leidert
Teil 6

Mit Mutter ging ich vorüber an den Wiesen und Feldern, durch eine Senke, die Bruch genannt wurde, überquerten einen kleinen Bach, den Zschampert, waren nun in Rückmarsdorf am Fuße des Wachbergs mit seinem weithin sichtbaren Wasserturm.

Es war ein wunderschöner warmer Sonnentag nach Frühlingsanfang, ich rannte am Wegesrand öfter weg und sammelte für Oma Tausendschönchen, Butter- und Glockenblumen. Mutter wurde schon ungeduldig und mahnte: »Wir werden noch den Bus verpassen!« Nun waren wir an der Bushaltestelle angelangt, vom Bus konnten wir gerade noch die Rücklichter erkennen, er war pünktlich abgefahren.

»Jetzt müssen wir drei Kilometer marschieren, bis wir an der Straßenbahn sind, das hat nun die Bummelei beim Blumensammeln eingebracht. Wir werden viel später zu Hause sein, und Oma und Opa werden denken, uns ist etwas zugestoßen!« Ja, in diesen Kriegszeiten gab es immer wieder Überfälle auf offener Straße, selbst Luftangriffe waren nicht mehr auszuschließen. Und schließlich hatten wir auch etwas Rübensirup und Eier bei dem Dorfbauer Rietzschold erstanden und in unserem Gepäck.

Unterwegs kontrollierte Mutter mit besorgtem Rundumblick, dass uns Niemand zu nahe kam. Endlich hatten wir die Kanalbrücke bei Gundorf passiert. Nun war es nicht mehr weit bis zur Endstation der 18. »Gott sei Dank«, sagte Mutter, »es steht ja schon eine Bimmel bereit! – In der Stadtmitte müssen wir nochmal ein Stück vom Königsplatz bis zum Augustusplatz laufen, um nach Stötteritz weiterfahren zu können!« Wir setzten uns in die Bahn, die sich mehr und mehr füllte.

»Abfahrt«, rief der Fahrer. Die Schaffnerin betrat den Fahrgastraum, um zu kassieren. Zehn Pfennige Zuschlag bis zur Stadtgrenze und wer in die Stadt will noch 20 dazu, Kinder die Hälfte. Mutter nahm für zwei Reichsmark eine Mehrfahrtenkarte, die Schaffnerin entwertete sie mit einer Knipszange die angetretene Fahrt. »Bitteschön, Ihr Billet«, sagte sie freundlich. »Wo steigen Sie aus?« Mutter antwortete: »Königsplatz, am Panoramacafé!«

Dort angekommen stellten wir fest, das Panoramacafé war nur noch eine Ruine und auch die Nebengebäude hatte es erwischt; wir liefen eiligst zum Augustusplatz. Am Augustusplatz hatten die Bomben rundum fast alles in Trümmer gelegt, wir hatten wohl auf dem Dorf davon gehört, so ge spenstig hat sich es jedoch Niemand vorstellen können: Opernhaus, Bildermuseum, das Auditorium-Maximum der Universität und Café Francais (Felsche) – alles dem Erdboden gleichgemacht, ausgebrannt, weggebombt.

»Sind da auch noch Tote unter den Steinhaufen, Mutti?«, wollte ich wissen. »Nein, nein«, gab sie klein bei. »Es ist traurig, dass es soweit gekommen ist!« Auf dem Platz vor den Ruinen hatten sich hunderte Leute zusammengerottet, Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien, aus dem Banat, Heimische – alle mit Säcken, Leiterwagen, Rollfixen oder mit einem Fahrrad und jeder wollte etwas tauschen oder kaufen, manche auch stehlen. Einer rief: »Wer will einen Zentner Briketts, ich brauche zwei Stück Butter, ein paar Eier und etwas Milch!«

Mutter meinte im schnellen Vorübergehen: »Die Briketts sind garantiert letzte Nacht von einem Güterzug geklaut, aber wer ausgebombt oder vertrieben ist und nichts mehr hat, der wird resolut und erfinderisch. Wenn er erwischt wird, geht er ein paar Tage in den Bau. Der Krieg wird bald zu Ende sein, die Amis und Tommys sind nicht mehr weit, die Russen schon an der Oder. Und Winter wird auch wieder mal kommen. Wohl dem, der dann noch ein Dach überm Kopf und was zum Heizen und zum Beißen hat!«


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