Mordshunger
Eine Mord- und Heimatgeschichte des Grünauer Autors Jürgen Leidert
Teil 7
Nahezu drei Stunden waren wir schon unterwegs, ich sehnte mich nach etwas zu essen und die Müdigkeit machte sich auch bemerkbar. Mutter war froh, dass wir es durch die Menschenmenge des Schwarzmarktes ohne Komplikationen geschafft haben und nun wieder in der Bahn nach Stötteritz saßen.
In der Dresdener Straße an dem Regina-Filmtheater stieg eine Frau zu und setzte sich uns gegenüber. Seltsam sah sie aus, ich beobachtete sie. Sie trug eine Kappe in einem Dunkelblau, daran, vor dem Gesicht ein schwarzes Netz mit eingearbeiteten kleinen Knötchen, sodass ihr Gesicht kaum zu erkennen war. Die Augen im blauschwarzen Schatten verdeckt, nur die Lippen tiefrot, wie reife Kirschen bemalt.
Ihre Beine in Netzstrümpfe gehüllt hatte sie beim Platznehmen übereinandergeschlagen. In Kriegszeiten hatte ich sowas noch nie gesehen und auch nicht gekannt. Ich war unangenehm berührt von dem Anblick und ihrer Wortlosigkeit. Kein Gruß, sie schien uns gar nicht wahrzunehmen! Das provozierte meine naive kindliche Fantasie und ich plapperte frei heraus:
»Mutti, ist die Frau da in den Farbkasten gefallen?«
– »Was erlaubst du Bengel dir«
, und sie schlug mir gleich heftig auf den Mund. An die Dame gerichtet sagte sie:
»Er ist noch zu klein, entschuldigen Sie!«
– Sie aber würdigte uns mit keinem Blick und schaute abgewandt aus dem Fenster des Waggons. Ich war verdutzt und vergoss ein paar Tränen, aber nun
waren wir zu Hause angekommen.
In Erwartung des Wiedersehens von Oma und Opa war die Aufregung um die Dame in der Bahn bald vergessen. Ich erinnere mich nur noch, wie Mutter Oma davon erzählte. »Na, die hat sich so
zurechtgemacht, um die Beine breit zu machen und um für ihre Liebesdienste auch etwas zwischen die Zähne zu bekommen. In den Zeiten, wo in den Küchen 'Schmalhans' angesagt ist, werden solche jungen Dinger
erfinderisch!«
Ich verstand gar nichts mehr, denn sie hatte ja die Beine übereinandergeschlagen! Der Empfang war bei Oma und Opa sehr freudig, schließlich hatten wir uns einige Wochen nicht gesehen. Ostern stand vor der Tür und Oma hat die Eier, die Mutter mitgebracht hatte zur Hälfte für den 'Osterhasen' mit Zwiebelschalen gefärbt.
Opa hat noch ein Päckchen Brauns Ostereierfarbe in der Drogerie gefunden, sodass es für Ostern wunderschön bunte Eier gab. Farben haben mich schon immer erfreut und mein Gemüt aufgemuntert. Manchmal durfte ich sogar etwas Pulverfarben aus der Drogerie nehmen, mit Wasser und Leim mischen und auf große Papierbögen damit Bilder malen.
Zum Abendbrot gab es Saubohnensuppe und falschen Brathering, das war mein Leibgericht. Der Brathering wurde aus aufgeweichten Brötchen und Kartoffelbrei zu Frikadellen geformt, in etwas Fett gebraten und danach vierundzwanzig Stunden in eine Essig-Senf-Marinade mit der Beigabe von Zwiebelringen eingelegt. Ein zeitgemäßes außergewöhnlich kreatives Kochrezept!
Bald war aber die Wiedersehensfreude durch das Heulen der Sirene auf dem Haus der Großeltern getrübt. Die 'Goebbelsschnauze', wie der Volksempfänger genannt wurde, verkündete: »Starke
angloamerikanische Bomberverbände nehmen Kurs auf Westsachsen«
!
Opa sagte: »Schnell, wir müssen in den Keller, die Angriffe sind schon ganz nah, die Amis haben schon die Rote Schule weggebombt und das Völkerschlachtdenkmal mit der Artellerie beschossen. Da
drin sind SS-Gruppen zur Verteidigung verschanzt; wenn das Denkmal fällt, wird wohl durch den gewaltigen Druck nicht nur ganz Stötteritz in Schutt und Asche liegen! Hoffen wir, dass alles gut
ausgeht!«
Jürgen Leidert