Grün-As
Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Mordshunger

Eine Mord- und Heimatgeschichte des Grünauer Autors Jürgen Leidert
Teil 8

Diese Nacht hatte wirklich unmittelbare Todesangst ausgelöst, das riesige 16-Parteienmietshaus hatte mehrfach vibriert und man hörte, wie es in der Nähe krachte, als sackten Gebäude in sich zusammen. Im Luftschutzraum des Kellers flackerte das Licht der Kerzen und als der Alarm vorüber war, gingen wir mit den Mitbewohnern des Hauses nach draußen, um nach Schäden zu sehen.

Schaufensterscheiben der Drogerie waren geborsten, einige Scheiben der Wohnungen gerissen, der Dachstuhl der Marienkirche brannte. Keine 50 Meter vom Haus weg, in der Parallelstraße war ein Haus nur noch eine Ruine und hier waren auch Tote zu beklagen. Direkt gegenüber brannte eine Krupp-Niederlassung lichterloh.

Opa meinte am nächsten Morgen: »Ihr seht, wie gefährlich es hier ist, Ostern müsst ihr wieder bei Marla sein. Das ist besser, wer weiß schon, wie das hier noch wird. Es ist ja unerträglich, hoffentlich wird das Chaos bald zu Ende sein. Mein Goldjunge, komm mal mit in den Laden!« Er nahm mich an der Hand und führte mich zu seinem Schreibpult. Darauf stand das Telefon.

Er rief kurz Tante Marla an, erzählte von der letzten Bombennacht und sagte ihr, er mache das gewünschte Farbmaterial fertig. »Brauchst du noch etwas weiße Lackfarbe für Fenster und Türen, dann gebe ich es Luise mit, so sie es tragen kann! – Also, alles Gute, passe auf dich auf!« Nun war Opa beruhigt und gab mir aus der Schublade seines Pultes von den Resten seiner aufgesparten Hansa- Schokolade eine Riefe mit der Bemerkung: »Mein Goldkind, wir müssen die Reserven schön einteilen, wer weiß schon, wann es mal wieder Schokolade gibt!«

»Natürlich Opi, ich bin nicht verfressen und freue mich immer, wenn du so lieb zu mir bist. Ich denke immer an euch, wenn ich mit Mutti bei Tante Marla bin. Vielleicht kommen wir ja bald zurück und der Krieg ist zu Ende. Oma hat auch mal gesagt, die Hetze gegen andere Völker und Untermenschen ist unmenschlich, jetzt schlägt es auf uns zurück!«

»Du Naseweiß! Sowas sagt Oma? Ich kann mich mit den Bolschewisten jedenfalls nicht anfreunden und hoffe immer noch auf Umkehr und Sieg! Ich wundere mich über die Amerikaner, dass die mit den Russen gegen uns stehen.« Von Opas Meinung war ich nicht überzeugt, ich traute mich aber nicht zu widersprechen. Omas Ansichten waren für mich einleuchtender.

Das Wochenende war rasch vorüber. Wieder ging es über Land nach Frankenheim, diesmal probierten wir es vom Hauptbahnhof mit dem Zug nach Miltitz, die Westhalle und große Teile der Gleisan - lagen des bis dahin größten Sackbahnhofs Europas waren nur noch Ruinen. Aber wir hatten Glück: Wir konnten mit der Bahn fahren, waren mit kleiner Verspätung bald in Miltitz.

Und weiter blieb uns das Glück beschieden. Wir mussten nicht laufen, denn Mutter hatte viel zu schleppen. Bauer Emil Rietzschold erkannte uns und lies seinen Pferdewagen halten, »junge Frau steigen Sie mit Ihrem Jungen auf den Kutschbock. Ich nehme Sie mit nach Frankenheim, da müssen sie nicht mehr so schwer tragen. Schöne Frauen kutschiere ich gern einmal durch die Prärie!« Mutter bedankte sich und wir waren froh, schnell zu Tante Marla zu kommen.


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