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Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Ein Stolperstein für Theodor Erich Boss

94. Oberschule setzt Zeichen für lebendige Erinnerungskultur

Der 27. Mai 2017 ist ein herrlicher Frühsommertag. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel. Es ist heiß. Während sich die meisten Leipziger wohl an einem See, im Park oder dem eigenen Garten aalen, versammelt sich gegen 14.30 Uhr in der Nordstraße eine kleine Gruppe Menschen, um einem Mann zu gedenken, der hier vor 77 Jahren lebte.

Theodor Erich Boss war ein jüdischer Bürger dieser Stadt, wurde im Februar 1940 nach Sachsenhausen deportiert und reichlich ein Jahr später im Konzentrationslager Dachau ermordet. Für ihn verlegt Künstler Gunter Demnig an diesem Nachmittag im Beisein von rund 50 Anwesenden einen Stolperstein in den Gehweg vor dem Eingang des heutigen Sparkassenkomplexes.

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Stolperstein für Theodor Erich Boss

Initiiert und finanziert wurde der kleine Pflasterstein mit der charakteristischen Messingplatte von Schülern der Grünauer 94. Oberschule in Kooperation mit dem Erich-Zeigner- Haus.

Für Theodor Erich Boss ist er späte Würdigung. Für die 13 Mädchen und Jungen der Klassenstufen 7 bis 9, die den Neigungskurs »UNESCO« belegt haben, ist er das sichtbare Zeichen und vorläufige Ab schluss für die Arbeit eines ganzen Schuljahres. Unter Leitung ihres Deutschlehrers Ingolf Thiele hatten sie sich auf vielfältigste Art und Weise mit der Thematik »Judenverfolgung im Nationalsozialismus« beschäftigt. Inhaltlich wurden sie von den Zeignerhaus-Mitarbeitern Henry Lewkowitz und Susanne Borschke unterstützt, die in ganz Leipzig derartige Projekte mit Schülergruppen durchführen.

»Die Arbeit an Oberschulen ist uns sehr wichtig, stellt uns allerdings auch vor besondere Herausforderungen«, sagt Lewkowitz und spielt vor allem auf fehlende Vorkenntnisse an. Dass sich dennoch so viele Jugendliche für den Kurs entschieden, sich über einen langen Zeitraum intensiv mit der Thematik beschäftigt haben und interessiert an dem Teil deutscher Geschichte sind, die andere am liebsten vergessen möchten, freut den Historiker umso mehr.

Das große Interesse rührte allerdings auch vom abwechslungsreichen Projekt-Programm her, welches den Schülerinnen und Schülern im Alter von 13 bis 15 Jahren geboten wurde. So nahmen sie an einer Stolpersteinverlegung im Oktober 2015 teil, besuchten die Leipziger Synagoge sowie den Alten Israelitischen Friedhof, beteiligten sich an der jährlich am 9. November stattfindenden Aktion »Mahnwache und Stolpersteine putzen« und tauchten somit nicht nur in die jüdische Geschichte ihrer Heimatstadt ein, sondern bekamen auch einen Einblick in die Anfänge und Auswirkungen der Verfolgung jüdischer Mitbürger. »Ich habe gelernt, wozu Hass und Ausgrenzung geführt haben«, so ein Schülerkommentar während der finalen Auswertungsrunde.

Zum Beispiel zu einem flächendeckenden Netz an Konzentrations- und Arbeitslagern. Eines davon befand sich in der heutigen Parkallee – mitten im Stadtteil und somit auch in der Lebenswirklichkeit der Grünauer Schüler. Gemeinsam mit Vertretern ihrer ungarischen Partnerschule, besuchten sie das Gelände, wo einst 500 jüdische Mädchen und Frauen aus Ungarn interniert waren. Hintergrundinformationen lieferten zwei Mitarbeiter der Gedenkstätte für Zwangsarbeit. Zum beklemmenden Gefühl, den ein solch authentischer, »scheinbar bekannter« Ort auslösen kann, kam für die ungarischen Gäste beim Lesen der Transportlisten auch noch die Erkenntnis, dass eine der Lehrerinnen in dem Dorf wohnt, aus dem einst hier Inhaftierte stammten.

Diese Verbindung zwischen der manchmal doch eher abstrakten Geschichte zur Gegenwart, kann mehr bewirken als schiere Wissensvermittlung und so verwundert auch kaum, dass die meisten Jugendlichen besonders vom Zeitzeugengespräch mit IrmgardOberländer beeindruckt waren. Die in der Nähe von Breslau geborene, heute 85-Jährige wohnt seit über sechs Jahrzehnten im Erich-Zeigner-Haus und hat schon vielen Schülern aus ihrem bewegten Leben berichtet. Zwar ist sie keine Jüdin und war somit nicht von unmittelbarer Verfolgung betroffen.

Aber was Krieg, Terror und Tod bedeuten, das weiß sie sehr genau. Eindringlich erzählte sie im Dezember 2016 von ihren Erlebnissen und nahm dabei auch immer wieder Bezug auf aktuelle Ereignisse wie den Syrien-Krieg und die daraus resultierende Flüchtlingsproblematik. Oberländer – selbst eine Geflüchtete – hatte eine einfache Botschaft: Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Frieden, und hinterließ mit ihrer Geschichte einen starken Eindruck bei ihren ju gend - lichen Zuhörern.

Ähnlich intensiv war auch die Begegnung mit dem Schicksal des jüdischen Fußballers Julius Hirsch. Im März durften die Schüler am Theater der jungen Welt (TdjW) miterleben, wie das Stück »Juller« geprobt wurde. Sie besuchten auch die Premiere der Inszenierung, die sich mit dem Leben, der Verfolgung und schließlich der Ermordung Hirschs im Konzentrationslager Auschwitz beschäftigt. Und sie geben ihre Gedanken in Form von Postkarten preis: »Ich hätte dich gerne kennengelernt«, steht auf einer. »Deine Geschichte hat mich sehr gefesselt. Wenn ich wüsste, wo du bist, würde ich dir einen Fußball schicken«, auf einer anderen. Oder: »... Wir alle tun was dafür, dass es nicht nochmal passieren wird!«

Dafür, dass sich so etwas tatsächlich nicht wiederholen kann, reicht es nach Ansicht vom TdjW-Intendanten Jürgen Zielinski allerdings nicht, sich nur theoretisch mit den Themen Rassismus und Ausgrenzung zu beschäftigen. Vielmehr mahnt er die Heranwachsenden »den Mund aufzumachen, Stellung zu beziehen, sich für etwas einzusetzen«. Gerade in der heutigen Zeit, müsse man aktiv werden. Aktiv sind sie nun geworden und irgendwie auch alle stolz auf das Ergebnis. Für UNESCO-Projektleiter Ingolf Thiele steht fest, dass die Zusammenarbeit mit dem Erich- Zeigner-Haus e.V. weitergeht: »Auf jeden Fall, werden wir 'unseren' Stein künftig immer am 9. November putzen und die Mahnwache halten. Außerdem möchten wir gerne weitere Stolpersteine initiieren.

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