Leserbrief
Sehr geehrte Damen und Herren,
eigentlich freue ich mich auf jede neue Ausgabe des »Grün-As«
ob
seiner vielfältigen Informationen, Ratschläge und Bildberichte. Das »Grün-As«
Nr. 5/2008 allerdings ruft
bei mir Bestürzung hervor, ausgelöst durch den Artikel: Her mit dem AJZ - »Hässliche Zeckenschlampe«
.
Ich musste auch erst einige Tage vergehen lassen, um Ihnen diesen Brief zu schreiben und um dabei meine Empörung sachlich
zu formulieren. Dieser Artikel gibt all jenen Recht, die unser Grünau verteufeln - in Grünau ist man nicht sicher und mehr
als in anderen Stadtteilen wird man angepöbelt und dominieren die Rechten die Kultur des Stadtteiles. In dem von Ihnen auch
in Nr. 5/2008 veröffentlichten Brief eines Lesers steht, dass den Rechten weder mit Losungen noch mit lauter Musik
beizukommen ist, dem pflichte ich bei.
Ich wohne seit nunmehr fast 28 Jahren in Grünau, fahre fast täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln, bin in Grünau aber weder in der Tram noch im Bus je angepöbelt worden. Negativerlebnisse in Bahnen und Haltestellenbereichen hatte auch ich schon etliche, allerdings am Waldplatz, am Hauptbahnhof, am Gördeler Ring, am Wilhelm-Leuschner-Platz und am Bayerischen Bahnhof und das sowohl nachmittags und abends. Ich will sagen, das von Ihnen zitierte Anpöbeln ist sehr schlimm, aber nicht typisch für Grünau. Hier ist unser Staat gefragt zu garantieren, dass Recht und Ordnung nicht nur auf dem Papier stehen. Dazu zähle ich auch Maßnahmen, die die Rechten in die Schranken weisen und uns vor ihnen schützen.
In Grünau hat das Studentenwerk drei tolle Wohnheime (WK I, WK IV und WK VII). Ich habe viele Jahre im SWL gearbeitet
und diese Wohnheime mit verwaltet. Studenten aus China, Afrika und den alten Bundesländern wussten oft bereits bei der
Anreise, dass Grünau in jedem Fall zu meiden ist, weil die Sicherheit der Bürger in diesem Stadtteil nicht gewährleistet
ist. Solche Artikel wie »Hässliche Zeckenschlampe ...«
diskriminieren die Grünauer/innen und tragen zum
nicht gerechtfertigten Ruf unseres Stadtteils überall dort bei, wo man den Artikel lesen wird. Und noch etwas ganz
Wichtiges: Durch das AJZ würde sich die Sicherheit in Grünau doch nicht verbessern und die Rechten würden auch nicht
weniger. Die Antwort der Rechten kam ja prompt mit der Demo am 29.04.2008. In unserer unmittelbaren Wohnumgebung möchten
wir das AJZ nicht haben, weil sich dann die ständigen Auseinandersetzungen vom Kulkwitzer See ins Wohngebiet verlagern
würden. Zudem wirkte die lautstarke Beschallung beim »Hoffest am neuen Domizil«
nicht anziehend sondern
abstoßend. Mehrere Bürger bekundeten, nicht mehr im WK II wohnen zu wollen, wenn sich das AJZ lautstark im Flachbau
etabliert.
Nach dem »Hoffest«
verschafften sich übrigens Teilnehmer der AJZ-Demo unberechtigt Zutritt in unser
Haus und saßen rauchend und Bier trinkend in unserem Keller. Das ist für uns ein großes Sicherheitsrisiko, in Grünauer
Kellern (auch in unserem Block) gab es eine Vielzahl von Kellerbränden. Abschließend möchte ich noch sagen, dass ich den
jungen Leuten von Herzen wünsche, dass die Stadt Möglichkeiten für eine sinnvolle Jugendkultur in Grünau schafft. Der
Standort sollte aber Wohnhäuser nicht in unmittelbarer Nachbarschaft haben.
Mit freundlichen Grüßen
Karin Malzahn,
04209 Leipzig
Antwort
Dies ist ein Offener Antwort-Brief, der sich auch an alle anderen Leserinnen und Leser richtet: Sehr geehrte Frau
Malzahn, zunächst vielen Dank für Ihre aufrichtige und detaillierte Zuschrift. Der von Ihnen angesprochene Artikel hat sehr
viele Reaktionen hervorgerufen - die meisten davon in ähnlichem Tenor wie die Ihre. Es ist mir als Autorin durchaus
bewusst, dass allein schon der Titel »Hässliche Zeckenschlampe«
für viele eine Provokation darstellt und
Entrüstung beim Lesen auslöst. Nun habe ich von dieser »Anpöbelei«
- wie sie das nennen - nicht einfach
nur gehört, sondern selbige ist mir eigens wiederfahren. Was mich daran so sehr aufregte, dass ich es in diesem Text
verarbeitet habe, war nicht etwa die Beleidigung meiner Person, sondern der Hitlergruß als eindeutig verfassungsfeindliche
Tat, die natürlich auch ihre bedrohende Wirkung nicht verfehlte. Ringsherum saßen im Übrigen Leute - ich nehme an, dass
darunter auch viele Grünauer/innen waren, die keine Anstalten machten, zu reagieren - sei es weil sie genauso irritiert
waren wie ich, Angst hatten oder es ihnen im schlimmsten Fall vielleicht sogar egal war.
Aufklärung notwendig
Es ist richtig, dass dieses Beispiel, wenngleich es sich hier abspielte, nicht Grünau spezifisch ist. Das habe ich so auch nicht formuliert. Darüber hinaus wollte ich weder den Stadtteil noch seine Bewohner diffamieren. Vielmehr wollte ich die Menschen, die normalerweise nicht mit solchen Szenen konfrontiert werden, wie manch ein linker Jugendlicher oder Ausländer sie tagtäglich erleben muss, für dieses Thema sensibilisieren und darauf aufmerksam machen, wie schnell ihre bürgerliche Ordnung in Gefahr zu geraten droht. Erst neulich wurde beim OBM Rundgang am 6. Mai deutlich, wie die neuen Nazis agieren. Keiner der Begleiter von Burkhard Jung hatte bemerkt, welch ungebetene Zaungäste unter den Zuhörern waren. Selbst Zivilbeamte und Szenekundige (zu denen ich mich jetzt einfach mal hinzuzähle) waren sich nicht hundertprozentig sicher, wer ihnen da in einiger Entfernung folgte. Vier junge Männer - alternativ aussehend, scheinbar Linke. Die Rechten von heute. Diese Verunsicherung führte letztendlich soweit, dass unser Stadtoberhaupt sich mit ihnen über das AJZ unterhielt und selbst dann nicht merkte, dass die Neo-Nazis sich köstlich über die Verwechslung amüsierten. Das ist - so peinlich dieser Vorfall auch war - der beste Beweis dafür, wie wichtig es ist, sich über die Entwicklung in dieser Szene auf dem Laufenden zu halten. Trotz des Vorfalls und anderen unschönen Begebenheiten der letzten Wochen und Monate: Grünau ist besser als sein Ruf. Das weiß jeder, der hier lebt, arbeitet oder das Viertel anderweitig kennt. Diesen Ruf gilt es jedoch zu verteidigen. Dabei ist es wenig sinnvoll, die Augen vor allem zu verschließen, was irgendwie unangenehm und störend ist. Die Stadtteilbewohner wehren sich gegen das Vorurteil, Grünau sei eine Schlafstadt. Grün - lebendig - anders möchte man sein. Aber spielende, laute Kinder im Hof werden per Schild verboten. Jugendliche vor der eigenen Haustür möchte man auch nicht haben und marschierende Nazis auf Grünaus Straßen werden stillschweigend geduldet.
Engagement vermisst
Sie und auch unser Leserbriefschreiber im letzten Heft haben sicher Recht, dass nicht jede Form von Widerstand gegen die
erschreckend dominant auftretenden Neo-Nazis sinnvoll ist - manche Aktionen mögen gar kindisch anmuten. Aber für
zivilcouragierte Menschen müsste es eigentlich außer Frage stehen, sich gegen den aufkommenden Rechtsradikalismus zu
stellen - anstatt das Problem zu ignorieren. Das kann manchmal nützlich sein, doch bei dieser Problematik wenig hilfreich.
Denn natürlich möchte man die Verantwortung gern an den Staat abgeben und darauf hoffen, dass dieser in geeigneter Weise
reagiert. Aber wenn sich ein Staat noch nicht einmal in der Lage sieht, einen Aufmarsch zu verbieten, der von einem wohl
bekannten Neo-Nazi (gegen den im Übrigen mehrfach wegen verschiedener Delikte ermittelt wird) angemeldet wurde, dann
sollten die Staatsbürger zumindest versuchen, ihren Unmut zu artikulieren- wenn sie den denn haben. Vergeblich warteten wir
am 29. April auf den Aufschrei der Grünauer. Wo waren die Bürger, die keine Unruhe und keine politischen Extremisten in
ihrem Stadtteil haben möchten? Fünf Prozent aller Einwohner hätten ausgereicht, um ein echtes Zeichen gegen Rechts zu
setzen, was in ganz Leipzig - vielleicht sogar in ganz Sachsen beachtet worden wäre und der Außendarstellung mehr genützt
hätte als zehn Image-Kampagnen. Stattdessen verirrten sich nur ganz vereinzelt ein paar Grünauer (einige kamen auch
gezielt) auf den Sportplatz am Kletterfelsen, wo eine Bürger party unter dem Motto: »Grünau bleibt bunt«
stattfand. Das war: enttäuschend für diejenigen, die in Windeseile dort etwas auf die Beine gestellt haben; ernüchternd für
diejenigen, die an das Engagement der Grünauer geglaubt und auf das Demokratieverständnis vertraut haben; bestätigend für
diejenigen, die den Stadtteil ohnehin mit Skepsis betrachten und erfreulich für diejenigen, die nun glauben, hier ihr
Pflaster für zukünftige Aktionen und Aktivitäten gefunden zu haben.
Kompromiss in Sicht
Um letzteres zu verhindern ist ein Alternatives Jugendzentrum (AJZ) meines Erachtens so wichtig. Jugendliche brauchen Angebote, die nicht den strengen Vorschriften eines Amtes unterliegen oder sich auf jugendfremde Öffnungszeiten von montags bis freitags bis 21 Uhr beschränken. Was der Verein Bunte Platte e.V. mit der Etablierung eines AJZ beabsichtigt ist mutig, verantwortungsvoll und verdient die Unterstützung der Grünauer.
Es liegt in der Sache der Natur, dass älteren Menschen oft Berührungsängste haben. Meist stört man sich allein schon an
Äußerlichkeiten wie Haarfarbe, Körperschmuck oder Kleidungsstil. Aber wer fragt nach den Gedanken, die sich hinter einem
lila gefärbten Pony verbergen? Nicht nur ältere Bewohner Grünaus sind nachdenklich und versuchen, ihr Wohnumfeld nach ihren
Vorstellungen zu gestalten. Das von Ihnen erwähnte »Hoffest«
war sicher kein Beispiel dafür, wie die
AJZler in Zukunft ihr Domizil nutzen wollen. Vielmehr ging es an diesem Tag darum, auf sich und ihre Obdachlosigkeit
aufmerksam zu machen. Auch wenn das Objekt Alte Salzstraße 59 a lange Zeit als einzig mögliche Perspektive galt, war mit
der Lösung verständlicherweise Niemand so recht glücklich. Die Bewohner befürchten sicher nicht zu Unrecht Lärm sowie
Auseinandersetzungen und die Jugend ist an einer ständigen Konfrontation auch nicht interessiert.
Um etwaigen Problemen zwischen den Bewohnern - vor allem jenen des Elfgeschossers - und den Nutzern oder Betreibern des Jugendzentrums vorzubeugen, gab es in den vergangenen vier Wochen intensive Bemühungen hinter den Kulissen, um eine für alle akzeptable Lösung der Objektfrage herbeizuführen. Auch wenn es meines Erachtens eine kleine Niederlage im Umgang miteinander darstellt, gibt es eine Alternative, die nun so schnell wie möglich realisiert werden soll. Dem Wunsch der Bunten Platte wurde insofern Rechnung getragen, dass sie ein, für ihre Zwecke geeignetes Gebäude in Grünau zu annehmbaren Kosten bekommen sollen. Die Grünauer müssen jedoch nicht um ihre Ruhe, Ordnung und Sicherheit bangen. Vielleicht ist das ja sogar der Beginn einer wunderbaren Koexistenz ...
Klaudia Naceur>