Schauriger Spaziergang
Mit Krimiautor Henner Kotte unterwegs durch Grünau
So richtig wollten Tageszeit und Wetterlage mit dem Motto des hochsommerlichen Stadtteilspaziergangs nicht übereinstimmen - strahlender Sonnenschein und Temperaturen jenseits der 30 Grad Celsius an jenem Augusttag wirkten jedenfalls alles andere als schaurig und lockten die Grünauer mehrheitlich weg von Asphalt und Beton. Der sonntägliche Treffpunkt - die Stuttgarter Allee - schien nahezu ausgestorben, was wiederum denn doch irgendwie zum Thema passte.
»Das Verbrechen von nebenan - Kriminalgeschichten aus Grünau und anderswo«
- ist das Spezialgebiet
von Krimautor Henner Kotte, der sich bereits seit frühester Kindheit auf diesem Gebiet belesen habe, was ihn wiederum
geradezu für derartige Führungen prädestiniere. Grund genug für die Mitarbeiter des KOMM-Hauses und der Grünauer
Bibliothek, ihn für einen Spaziergang durch die hiesigen Häuserschluchten einzuladen. Einmal in seinem Element, scheint es
den Leipziger Krimifachmann auch kaum zu stören, dass sein Publikum aus lediglich drei Zuhörern besteht - im Gegenteil:
Kotte läuft zur Höchstform auf und die Anwesenden, die schon Bedenken hatten, dass es ob der wenigen Teilnehmer überhaupt
einen Rundgang geben wird, kommen bei dem dreistündigen Programm voll auf ihren Geschmack.
Wer von ihnen in Grünau jedoch die Brutstätte von Mord und Totschlag vermutete, wurde eines Besseren belehrt:
»Der Stadtteil war schon immer sehr ruhig - kaum Kapitalverbrechen - zu DDR-Zeiten überhaupt keine«
,
Henner Kotte scheint fast ein wenig enttäuscht. Der Autor unzähliger Krimikurzgeschichten und -romane wäre aber nicht er
selbst, wenn er nicht doch das ein- oder andere Delikt aufgetan hätte - das erste auf diesem Territorium ereignete sich gar
vor über 450 Jahren: Damals wurde der Kaufherr Sigismund Oertel aus Nürnberg auf seinem Weg zur Leipziger Messe in der
Gemarkung Schönau überfallen und bei einem darauf folgenden Geplänkel erstochen.
Den beschuldigten Edelleuten konnte jedoch die Tat nicht nachgewiesen werden und so kam der damalige Bürgermeister Hieronymus Lotter auf die Anwendung des sogenannten Bahrgerichts, bei dem die Leiche aufgebahrt wurde und von den Verdächtigen berührt werden musste. Begannen die Wunden bei Berührung zu bluten, galt dies als Schuldbeweis. So wurden der Ritter Wolf von Draschwitz sowie sein Knecht der Tat überführtund im Juli desselben Jahres 1557 auf dem Markt hingerichtet. Nur 15 Jahre ist dagegen der Totschlag in der Breisgaustraße aus dem Jahre 1994 her: Ein junger Mann tötete die Schwester seiner Freundin im Hobbyraum des Mietshauses. Er war genervt von ihr...
Der wohlige Schauer, nach dem Krimikonsumenten für gewöhnlich lechzen, will sich aufgrund der tatsächlichen Geschehnisse
und die Nähe zu damaligen Tatorten nur zögerlich einstellen. Kotte unterbricht nach der ersten halben Stunde den
Realo-Grusel-Report und liest zur Abwechslung aus seinem Buch »Abriss Leipzig«
, welches allerdings auch
nicht ganz fiktiv ist. Es geht um den Mord an einem minderjährigen Stricher. Die Protagonisten agieren teilweise im
wirklich existierenden Grünau der Wendezeit. Auch wenn nur vorgelesen wird, gilt Authentizität. Um sich an die Orte fühlen
zu können, werden die literarischen Original-Schauplätze angelaufen. Das Grüppchen begibt sich dafür unter anderem in die
Rotunde des menschenleeren Allee-Centers.
In gekühlter Luft und großartiger Akustik stellt Henner Kotte sein Rhetoriktalent unter Beweis und schockiert die
anwesenden zwei Damen und einen Herren zunächst mit der Eingangsszene seines Romans - einer deftigen Schilderung
sadomasochistischer Praktiken. Es ist - abgesehen von der stimmliche Präsenz des Autors - mucksmäuschenstill. »Ich
gehe etwas abgehärteter nach Hause, als ich gekommen bin«
, wird eine der beiden Zuhörerinnen ganz am Ende sagen.
Zwischen dem Stopp im Allee-Center und diesem Resümee am Ende der abschließenden Lesung in der Bibliothek im WK 7 liegen
noch etliche Geschichten an verschiedenen Orten: Reale - wie die Explosion auf dem Gelände der Roten Armee in den 80-er
Jahren, der die westliche Presse Rekordopferzahlen von über 200 Toten zuschrieben und jede Menge erfundene, groteske oder
bitterböse - ein schauriger Spaziergang im heißen Grünau.