Erdbeeren gegen Nussknacker
Teil 2
Genau das war auch der Grund, warum sich vor dem Geschäft der Wendts meist lange Schlangen bildeten. Das gute Angebot
sprach sich herum und so kamen die Leute aus ganz Leipzig, aber auch aus Markranstädt, Markkleeberg oder Miltitz. Neben den
Schulbüchern - im Schnitt belieferte der kleine Papierwarenladen sowohl vor als auch nach der Wende etwa 20 Schulen, der
Rekord lag bei 32 - hatte der Familienbetrieb immer die aktuelle Saisonware im Angebot und auch dabei immer ein paar
»Schmäckerchen«
parat. Umtriebig musste man sein, wollte man im DDR-Alltag bestehen und trotzdem sollte
noch Zeit für die Familie bleiben.
Im Hinterzimmer, das die Wendts samt den sogenannten Fremdanlagenerweiterungen selbst anbauten, wuchs Tochter Annett
auf, machte dort ihre Hausaufgaben und half im Laden aus: »Das war praktisch mein Zuhause - ich habe mich hier
immer sehr wohl gefühlt «
, erzählt die 40-Jährige und kämpft dabei mit den Tränen. Auch ihren Eltern fällt die
Erinnerung schwer, sind sie doch bei einem Kapitel angelangt, das sich selbst im Nachhinein nur mühsam in Worte fassen
lässt: »Mitte der 80er hatten wir wirklich heftige Schicksalsschläge zu verkraften«
, sagt Dagmar Wendt
gedankenverloren. Zunächst starb ihre Mutter, die sie bis dahin gepflegt hatte - im selben Jahr erlitt ihr Mann einen
Herzinfarkt, der ihn zum Invalidenrentner machte. Wenig später erkrankte sie selbst an Krebs und musste operiert
werden.
Letzteres geschah in der Zeit des politischen Umbruchs, der für die meisten Menschen ohnehin viele Wirren bedeutete -
erst recht wenn man ein privates Unternehmen führte. Doch die Wendts wären nicht sie selbst, wenn sie nicht auch diese
schwere Zeit gemeistert hätten. Kurzerhand machen sie sich von der HO unabhängig, bereinigen ihren Warenbestand und
versuchen ihren eigenen Weg zu gehen. Dazu halten sie in weiser Voraussicht an bewährten Dingen fest, kaufen beispielsweise
»für 'nen Appel und ein Ei«
Erzgebirgskunst auf und schaffen sich somit eine neue Grundlage. Clever und
vorausschauend bleiben sie auch weiterhin: »Vor der Währungsunion sind wir nach Freiberg gefahren und haben dort
Auto und Hänger mit Feuerwerkskörpern vollgeladen. Ich glaub, wir waren fast die einzigen, die das für den 3. Oktober
anbieten konnten«
, freut sich Dagmar Wend noch heute über den Coup.
Auch in puncto Schulbuchvertrieb, den sie durchgehend bis 2008 beibehielten, waren Wendts ihrer Zeit einen Schritt
voraus. Als die Volksbuchhandlung wegbrach und es eine Schulungsveranstaltung für potenzielle Schulbuchhändler gab, waren
sie die einzigen, die daran teilnahmen. »Das muss man sich mal vorstellen - wir haben das dann erst dem Schulamt
erklären müssen, wie es läuft...«
, die engagierte Frau kann es bis heute nicht fassen, wie unprofessionell andere
zu der Zeit gearbeitet haben. Vielen, so meint sie, fehle einfach die kaufmännische Grundlage. Sie sei in der glücklichen
Lage gewesen, keine Kredite aufnehmen zu müssen, habe sich aber auch nie dazu verlocken lassen, einen großen Laden zu
mieten oder sich teuer beliefern zu lassen.
Der Versuch, ein Reisebüro zu etablieren, misslang zwar, andere neue Geschäftsideen glückten hingegen. So betreuten Mitarbeiter jahrelang Weihnachtsstände im PEP, im Paunsdorf-, Allee- und Löwencenter - auch hierauf hatte sich Dagmar Wendt akribisch vorbereitet, eine Woche lang Kundenbewegungen studiert, um die optimale Verkaufsstrategie entwickeln zu können. Reich sind sie trotz ihrer Erfolge nicht geworden, dafür aber bodenständig geblieben und auch ihren Kundenservice haben sie bis zum Schluss nicht vernachlässigt - sei es eine Tasse Glühwein nur mal eben so zum Rosenmontag oder die stets familiäre Atmosphäre im kleinen Papierwarenladen in der Schönauer Straße.
Wenn die Wendts zum Jahresende schließen, geht in Grünau eine Ära zu Ende.
Klaudia Naceur