Spaziergang im Nieselregen
Vielleicht eine der besten »Geschichten aus dem Hochhaus«
Novembernachmittag. Der AWO-Treff in der Stuttgarter Allee füllt sich mehr und mehr. Ist hier noch frei? Nein. Besetzt! Ja, gibt's das? Die Frau stampft
mit dem Schirm auf. »Wir brauchen noch zwei Stühle!«
, scheucht sie Anne-Katrin Sepp und ihr Team los. Sie sei immer mittwochs hier. Wo
gibt's denn sowas?
Ich höre meine Zähne knirschen... Und sehe zu dem Mann vorn am vorbereiteten Leseplatz. Johannes Burkhardt hat sich schick gemacht für sein Anliegen.
Dunkler Anzug. Dezent gemustertes Hemd. Hellwache kluge Augen. Keiner würde ihn auf 83 schätzen. Ein wenig amüsiert schaut er auf die Menge - zwinkert zwei
Mittfünfzigerinnen zu. »Seine Töchter.«
, erklärt mir Lektorin Roswitha Scholz vom »Dialog am Donnerstag«
. Johannes
Burkhardt ist ihr bester Mann. Gleich wird er aus seinen »Geschichten aus dem Hochhaus«
lesen. Eben kommen noch zwei. Nachbarn und
Bekannte. Winken hinüber. Immerhin - fast vierzig sind da. Und werden nun offiziell begrüßt.
Seit 1982 ist der studierte Maler und Grafiker Grünauer. Lebt mit seiner Familie mittendrin. Im Hochhaus. Freischaffend oder als Lehrender. Schuf Landschaften, Porträts, Wandmalereien. Seine Ausstellung im Stadtteilladen ist noch in guter Erinnerung. Johannes Burkhardt hat sich den Blick bewahrt auf andere Künste, ist belesen, weit gereist, liebt Musik und Theater. Und hat schon vor vielen Jahren das Schreiben für sich entdeckt. Als Handwerk. Mit Tinte auf Papier. Fühlt und schmeckt die Worte, lauscht ihrem Klang. Kritzelt, ändert, überklebt. Bis ihm der Ton gefällt. Erlebtes angemessen aufzubewahren scheint. Wert, es mitzuteilen. Es mit anderen zu teilen. Drum sei er hier.
Er käme nun im Alter nicht mehr so weit rum. Kokettiert er. Und entdecke in zunehmendem Maße Grünau. »Spaziergang im Nieselregen«
.
Heute braucht man nur aus den riesigen Schaufenstern zu schauen. Da klatscht er gerade an die Scheiben. Dahinter sein Hochhaus. Und da läuft / liest er
auch schon los. »... umhüllt vom Regen, vom Nieseln und Rieseln ...«
macht er sich auf den Weg. Zu einem »... Pfad, der schon
immer seine Fantasie anregte.«
Gelangt in den großen Park. Vorbei an hundert Jahre alten Weiden. An Schlingen aus Efeu. Märchengleich.
Versponnen. Zu der kleinen Holzbrücke mit dem grazilen Eisengeländer.
»... anmutig gewölbt ... einem Lustgarten gleich ...«
Wenn man genau hinschaut, spiegeln sich die Schirme der Damen...
Staunt über »... dieses Gefüge aus Menschenhand und Natur - von Entwurf und Wildwuchs ...«
Spürt die Tropfen im Gesicht. Den leichten
Wind. Fühlt sich umhüllt und zeitenthoben in einen barocken Rahmen. »... Spiegel aus Licht ...«
brechen durch das Laub. ... Auf dem
Heimweg habe er sich gefühlt, »... als trüge er einen geborgenen Schatz nach Hause«
. Und da hat er sie gepackt. Mäuschenstill sind sie.
Lauschen. Erinnern sich.
Einige nicken. Träumen sich aus diesem regennassen Novembernachmittag. Fühlen das faulende Laub unter ihren Sohlen. Riechen den leichten Moder. Genießen
den morbiden Charme, den Johannes Burkhardt mit seinen Worten heraufbeschwört. Er lädt uns dann noch ein zu »Weihnachten bei uns zu
Hause«
. Erzählt von »Winterlandschaft mit sterbender Krähe«
oder einem kleinen »Vogel im Märzschnee«
. Und
er ist sich sicher »Amseln erfinden Liedanfänge«
.
Unverschämt verschmitzt seine Limericks. Aber die müsste man länger auf der Zunge kosten, zergehen lassen wie ein gutes Stück Weihnachtsschokolade ...
Dem will sich nicht jeder hingeben. Schon schwatzen sie wieder. Brechen unruhig auf. Inge, was gibt's hier morgen? Quarkkuchen. Ich fass' es nicht.
Johannes Burkhardt ruht in sich, weiß inzwischen ... Und zwinkert. Und nennt sein jüngstes Buch »Meine Katze will nicht wissen, was ich schreibe
...«