Wenn die Platte zur Bühne wird
Theaterprojekt gastierte im Frankenheimer Weg
Rostock-Lichtenhagen - Synonym für die schlimmsten rassistischen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Hunderte Neonazis greifen im August 1992 mit Steinen und Molotowcocktails die zentrale Ausländeraufnahmestelle (ZAST) sowie ein Heim für vietnamesische Vertragsarbeiter an, die im so genanten Sonnenblumenhaus inmitten einer Neubausiedlung der Hansestadt gelegen sind - beklatscht und bejubelt von tausenden Anwohnern.
Der Volkszorn entlädt sich nachdem die restlos überfüllte Aufnahmestelle von immer mehr Asylsuchenden belagert wird, die im Heim nicht mehr untergebracht werden können und so auf der Wiese rund ums Sonnenblumenhaus campieren.
Fünf Tage lang tobt der Mob in Rostock. Polizei und Politik agieren - mutwillig oder nicht - hilflos. Danach ist Ruhe. So still ist es, dass man die Geschehnisse von einst schnell vergessen kann.
Verdrängt hat sie auch Michael Rabert. Der junge Mann lebt mit seiner hochschwangeren Schwester und seiner Mutter direkt neben dem Sonnenblumenhaus. Ein Kind war er damals. Heute ist er 18 und möchte an die Filmhochschule. Michi, wie er nur genannt wird, dreht eine Dokumentation über seine Familie, mit der er sich an der Akademie bewerben will.
Anfangs noch skurril dilettantisch hantiert er mit einer Handkamera herum. Filmt seine Mutter beim Schnittchenmachen oder fordert seine Schwester auf, sich doch bitte mehr im Profil zu zeigen und verträumt Kaugummi kauend am Fenster zu stehen. Das sei authentischer. Und Authentizität sei das Wichtigste an einer Doku.
Authentisch ist auf jeden Fall der Aufführungsort des Stückes »Achtzehn Einhundertneun Lichtenhagen«
am Abend des 21. Mai. 16 Jahre
nach dem Progrom in Rostock hatte die Wismarer Theaterwissenschaftlerin Anne Raabe das Stück ursprüngliche für die Bühne geschrieben. Nun gastiert die
junge Theatergruppe Citizen.KANE mit vier Vorstellungen bereits zum zweiten Mal in Grünau - in einer zum Abriss preisgegebenen PlattenbauWohnung der
KONTAKT im Frankenheimer Weg.
Auf dem Ankündigungsflyer steht neben der Wegbeschreibung, man solle bei Rabert klingeln. Und tatsächlich steht der Name am rechten untersten Knopf des Klingelschildes. Der angehende Filmstudent öffnet selbst die Tür und schon ist der Zuschauer mittendrin statt nur dabei. Es folgt noch schnell der Hinweis, dass in der Wohnung nicht geraucht werden, man sich ansonsten aber wie zu Hause fühlen solle. Und das tut man auch unweigerlich.
In der Küche steht das Abwaschwasser noch in der Spüle, auf dem Herd kochen ein paar Eier vor sich hin. Rund 20 größtenteils junge Leute - die Theatercrew inbegriffen - tummeln sich in der 5-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss des sechsgeschossigen Blockes im WK 5.1. Viele von ihnen kennen die Platte aus ihren Kindertagen, schwelgen in Erinnerungen, sind gespannt auf das was kommt.
Dann geht es los: Das Publikum verteilt sich. Das Geschehen kann entweder direkt oder über Fernseher verfolgt werden. Denn Michi-Mime Christian Streit filmt permanent und die Bilder laufen sozusagen live auf allen Kanälen. Gekonnt gemixt mit Schnitten aus der Zeit vor 21 Jahren. Abgesehen von den kurzen Sequenzen spielen die Ereignisse von Lichtenhagen dabei zunächst keine große Rolle.
Von Ulle (Jan Ullrich) ist die Rede, wie er täglich mit seinem Rennrad am Haus vorbei zum Meer fuhr und von anderen Nebensächlichkeiten. Bizarr und zu Beginn leicht verworren sind die Situationen in denen sich die kleine Familie präsentiert sowie die Dinge, von denen sie spricht. Nach und nach taucht der Zuschauer jedoch ein in die Geschichte von drei Menschen, die unterschiedlicher kaum sein können.
Cora (Sarah Kempin), hochschwanger und schwer verzweifelt, weil sie vom Vater des Kindes verlassen wurde, ihren Medizin-Studienplatz verloren hat und nun keine Perspektive mehr für sich sieht. Mutter Jutta (Andrea Leonetti) - ein Wendeopfer schlechthin - trauert der Vergangenheit nach und verklärt diese mit allen Kräften. Und Michi, der lediglich im Hier und Jetzt zu leben scheint, für den sich die große weite Welt erst öffnet. Trotzdem sind sie ein Team.
Zumindest bis zu dem Punkt als die Ausschreitungen zur Sprache kommen. Michi will überhaupt nicht darüber reden, wird aggressiv und versucht das Thema zu wechseln. Jutta verharmlost und beschwichtigt - wie immer. Einzig Cora zieht aus den Geschehnissen gewisse Schlüsse - gesellschaftlich, wie familiär und das Stück nimmt eine überraschende Wendung.
Klaudia Naceur