Mordshunger
Eine Mord- und Heimatgeschichte des Grünauer Autors Jürgen Leidert
Teil 28
Über diese Analyse war das
Wattel sichtlich erschrocken. Er
fing laut an zu weinen. Ihm flossen
die Tränen über's Gesicht und er
schluchzte nur: »Mm, naja, aber
nee, nee, so war's nich, von dem
Pilz habsch nischt gewusst, nur
Champis un Bofiste hab isch
genomm, das könnse mir glohm.«
»Sie sind noch sehr jung, der
Krieg ist nun zu Ende. Gehen wir
mal davon aus, Sie haben die
Tötung nicht beabsichtigt, warum
haben sie da keine Hilfe geholt,
können sie das erklären?«
Wattel sagt: »Neja, ich habe
panische Angst bekommen, dass
vielleicht ein Giftpilz drunter geraden
is, das war awer keene
Absicht! Da habsch mich tagelang
verkrochn und später verlauten
lassen, Olaf sei getürmt. Damit
nicht weiter nach ihm gesucht
wird, hatte ich ihn nachts vergraben.«
»Beruhigen Sie sich jetzt, wenn
Sie die Pilze nicht genau kennen,
dann können Sie sie eben nicht
Jemanden zum Essen anbieten.
Sie sind jedenfalls am Todesfall
Ihres Bruders schuldig. Das ist
Tötung Widerwillen, nicht Ihre
Absicht. Ihr Leben lang werden Sie
sich das vorwerfen müssen, dass
Sie am Tod des Bruders Schuld
haben, weil Sie versagt haben. So
ein Gifttrichterling ist eben unter
die Champignons geraten, so die
Ergebnisse der Untersuchungen
der Rechtsmedizin Leipzig. Ich
gebe zu, er ist dem Champignon
sehr ähnlich.
Wenn nicht gerade der Krieg zu
Ende wäre und alles erst im Neuaufbau,
müsste ich Sie jetzt in
Untersuchungshaft nehmen. Ihrer
Jugend ist es zu danken, dass wir
vorerst davon absehen. Wenn es
sich zugetragen hat, wie Sie mir
berichtet haben, will ich es Ihnen
so glauben. Möglicherweise müssen
Sie noch alles in einem
Gerichtsprozess bestätigen, was
hier im Verhör protokolliert
wurde. Das Protokoll müssen Sie
und Ihr Vormund, Herr Kautz
unterschreiben.«
Bauer Kautz nickte zustimmend,
Axel atmete auf, er musste nicht in
Haft. Beide leisteten ihre Unterschriften.
Der das Verhör geführt
hatte sagte noch: »Wenn es gut
geht, kommen Sie mit Bewährungsauflagen
davon, im Falle, Sie
werden irgendwie wieder strafbar,
gehen Sie für lange Zeit in einen
Jugendwerkhof oder eine Haftanstalt!
Ich hoffe, wir haben so
schnell nicht wieder das Vergnügen
miteinander. Auf Wiedersehen,
aber besser nicht.«
Olaf wurde bald darauf unter großer Anteilnahme der Dorfbewohner beigesetzt. Onkel Hein war zu Hause eingetroffen, er bedauerte den verstorbenen Olaf, er hatte ihn mal als Lehrer unterrichtet und ging mit zur Trauerfeier in die große Kapelle. Auch wir Kinder nahmen teil, gaben Ole das letzte Geleit.
Hungersnot und Mangelwirtschaft, Rationierung der Lebensmittel, Schwarzmarkt und Tauschgeschäfte bestimmten noch Jahre nach Ende des Krieges das Leben der Menschen. Bauer Rietzschold hatte nicht nur das Kaffeeservice erstanden, er hatte sich eine neue Stallung für zwei Sack Kartoffeln bauen lassen. Den Zement hatte er bezahlt, die Ziegelsteine aus Ruinen gesammelt und abgefahren.
Kautz hatte nun das Wattel weitgehend auf seinem Hof beschäftigt. Er konnte kaum noch Rietzschold helfen. Auch Bürgervertreter Franz Campon nutzte die Gunst der Stunde, ließ sich einen Stallungsanbau projektieren, gab im Tausch für die erbrachten Leistungen eine Milchziege, die in einem Schuppen bei Tante eingestellt wurde. – Muttis Freund und späterer Ehemann war Baumeister. Er hatte die Sache mit Campon ausgehandelt. Jeder versuchte auf seine Weise das Leben neu zu organisieren und zu gestalten.
Jürgen Leidert