Die Bibliothek ist erst der Anfang
Joachim Bachmann: ein rühriger Senior im Dienste seiner Nachbarn
Wer an einem Dienstag an die Wohnungstür von Joachim Bachmann kommt, findet lediglich einen Zettel vor. »Bin in
der Bibliothek«
steht darauf geschrieben. Und tatsächlich: Ein paar Türen weiter im Erdgeschoss des DRK-Komplexes
sitzt der 67-Jährige vor einem Regal voller Bücher und wartet auf lesehungrige Heimbewohner. Vor ihm steht ein
Karteikasten, in dem er in mühevoller Arbeit sämtliche Ausleihlektüre säuberlich katalogisiert und sortiert hat. Drei ganze
Monate hat er dafür gebraucht, um »Ordnung in den Laden zu bringen«
. Nun freut er sich, dass es endlich
richtig losgehen kann.
Die Idee, eine heiminterne Bücherei aufzubauen, kam dem studierten Juristen im Sommer 2008. Zwei Jahre zuvor hätte das
noch Niemand für möglich gehalten. Damals war er gerade erst auf die Pflegestation des Heimes in der Grünauer Allee
eingeliefert worden - ohne Erinnerung, ohne Sprechvermögen. »Ich bin einfach auf der Straße zusammengebrochen und
erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Die Ärzte«
, erzählt er sichtlich bewegt, »hatten mich praktisch
aufgegeben und ins Heim 'abgeschoben'.«
Aufopferungs- und liebevoll habe man sich um ihn gekümmert. »Die haben mich richtig aufgepäppelt. Mittlerweile
bin ich vom Pflege- in den Servicebereich des Heimes gewechselt und habe nicht einmal mehr eine Pflegestufe.«
Wie
er Teile seiner Erinnerungen wiederfand, weiß Bachmann noch genau: »Ich hatte einen MP3-Player auf meinem
Nachttisch und konnte eigentlich nichts damit anfangen. Ein junger Pfleger bot sich an, mir ein paar Titel aufzuspielen.
Italienische Oper - der junge Mann wusste ja gar nicht, was er damit anrichtet.«
Bei diesen Worten huscht das
erste Lächeln über das Gesicht des mit Abstand jüngsten Heimbewohners. »Die Musik habe ich schon immer geliebt.
Beim Hören habe ich mich sofort an frühere Reisen nach Venedig und Mailand erinnert.«
Ein Anfang war gemacht. Im Zuge seines Genesungsprozesses entdeckte Joachim Bachmann alte Gewohnheiten und Interessen
wieder . »Ich habe früher viel gelesen, hatte die Wohnung voller Bücher. Hier im Heim war ich nun auf die
verfügbaren Bestände angewiesen«
, erzählt der Rentner von seiner Entscheidung, einen eigenen Bibliotheksdienst
anzubieten. Auf die rund 1000 bereits vorhandenen Bücher muss er zwar heute auch noch zurückgreifen, aber er hat auch schon
Ideen, wie er sich neue Lektüre beschaffen kann. »Zum einen kommen durch neue Bewohner auch neue Bücher an.
Darüber hinaus möchte ich zukünftig mit der Stadtteilbibliothek in der Stuttgarter Allee und der Zentralbücherei für Blinde
kooperieren, so dass ich eine Art Kettenverleihung realisieren kann«
, erzählt Bachmann von seinen Vorhaben.
Zunächst sei die Bücherei zwar noch auf Bewohner beschränkt. Zukünftig sollen allerdings auch Grünauer aus der näheren
Umgebung des DRK-Heimes das Angebot nutzen können. Während der Hobby-Bibliothekar regelrecht ins Schwärmen gerät, steckt
immer mal wieder jemand den Kopf durch die Tür zu seinem Reich und sei es nur, um »Hallo«
zu sagen oder
ein Schwätzchen abzuhalten. In der Regel sind es etwa 10 bis 15 Besucher jeden Dienstag - manche kommen auch außerhalb der
Öffnungszeiten oder werfen ihm Zettel mit Bücherwünschen in den Briefkasten. Der junge Senior freut sich über den positiven
Zuspruch von allen Seiten. Das gibt ihm Mut, neue Pläne in Angriff zu nehmen - beispielsweise Ratschläge zu
altersspezifischen Themen, praktische Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen, Literaturdiskussionsrunden oder Filmabende
anzubieten.
Peu á peu soll sich sein kleines Bücherzimmer und der angrenzende Aufenthaltsraum so zu einem Treffpunkt, wenn nicht gar
Mittelpunkt des Seniorenheimes entwickeln. Bachmann träumt von einem »kulturellen Zentrum«
, bei dem die
Bewohner mit eingebunden werden sollen und der große Speisesaal zum Veranstaltungsort wird. Angedacht sind auch Tagestouren
in die nähere Umgebung für diejenigen, die noch mobil sind. Ausprobiert und durchgespielt hat er schon einige, nun wartet
er auf besseres Wetter . »Vieles davon sind vorerst noch Zukunftsvisionen«
, zügelt sich der rührige
Rentner. Er weiß, dass so eine Entwicklung Zeit braucht. Aber er ist zuversichtlich, dass er es in Zusammenarbeit mit der
Heimleitung und mit Zutun anderer Bewohner schaffen kann, das Leben in der Grünauer Allee 61 ein wenig abwechslungsreicher
zu gestalten.
Was vielleicht wie ein Vorwurf an Pflegekräfte oder Heimleitung klingt, ist mit Nichten so gemeint: »Die
Mitarbeiter tun ihr Möglichstes im Umgang mit den Bewohnern. Das ist im Alltag ein unglaublicher Stress und bestimmte Dinge
bleiben zwangsläufig auf der Strecke. Wenn ich in puncto Freizeitgestaltung eine Lücke schließen kann, dann tu ich das
wirklich gern.«
Bachmann weiß es aus eigener Erfahrung: Wo nichts los ist, hat man viel zu viel Zeit, über
sinnlose und zermürbende Dinge nachzudenken.
Davon möchte er seine unmittelbaren Nachbarn abbringen und nicht nur das. Er bemüht sich darüber hinaus auch um deren
Interessen. Zum Beispiel mit der Bildung eines Bewohnerbeirates. Darin nämlich sieht er eine Chance, dass sich alle
einbringen und mitbestimmen können. »Die Leitung unterstützt uns mit diesem Vorhaben. Im Dezember hatten wir ein
Treffen mit sehr großer Beteiligung, bei dem wir den Beirat vorgestellt haben. Im März wurde er dann gegründet. Ich dachte
an eine Art Stammtisch«
, beschreibt der lebenslustige Mann die kommenden Beiratssitzungen und lässt dabei die
scheinbar unerschöpflichen Ideen erahnen, die in ihm schlummern. Die Bücherei ist eben erst der Anfang.