Nichts, was es nicht gibt
Von der Individualität Grünauer Wohnungen
Als am 1. Juni 1976 der Grundstein für Leipzigs größten und modernsten Stadtteil gelegt wurde und Grünau in den darauf folgenden Jahren zu einem riesigen Viertel heranwuchs, der einer Stadt in der Stadt glich, konnten tausende Leipziger mit Wohnraum versorgt werden.
Viele Neu-Grünauer waren glücklich über die Zuweisung einer so genanten Neubauwohnung, kamen die meisten doch aus oft beengten Verhältnissen, aus Altbauten mit Klo auf halber Treppe, undichten Dächern, zugigen Fenstern, Kohleöfen und Wasserboilern. Die - mit wenigen kleinen Ausnahmen - völlige Uniformität sowohl der Fassaden, als auch der Wohnungsschnitte störte dabei kaum. Wer froh über das erste eigene Bad mit Wanne und fließend warmem Wasser war, der übersah die Winzigkeit der Nasszelle ohne Fenster geflissentlich. Ohne Aufzug in die 6. Etage? Kein Problem.
Mit der politischen Wende und der damit einhergehenden Sanierung der Altbaubestände im ganzen Stadtgebiet, änderte sich die Situation jedoch schlagartig. Stadtteile, die zuvor halb auseinanderfielen, weil die Bausubstanz nicht gepflegt wurde, lockten nun mit wunderschön großen Wohnungen mit tollen, von Licht durchfluteten Bädern, Parkettfußböden und hohen Decken in Gründerzeithäusern. Und die bis dato genügsamen DDR-Bürger, die mit ihrer Wohnsituation durchaus zufrieden waren, sich eingerichtet und ihr Zuhause je nach Möglichkeiten individuell gestaltet hatten, entwickelten plötzlich ganz neue Bedürfnisse.
Viele kehrten ihrem Stadtteil den Rücken, konnten einer Plattenbauwohnung auf einmal gar nichts mehr Positives abgewinnen. Freilich hatte und hat Grünau auch noch ganz andere Qualitäten: ruhige, großzügige Innenhöfe beispielsweise oder vielerorts verkehrsberuhigte Straßenzüge, Kindergärten, Schulen sowie Einkaufsmöglichkeiten en masse und dennoch: Der Stadtteil verlor in wenigen Jahren beinah die Hälfte seiner Bewohner. Natürlich war das nicht ausschließlich fehlender Individualität geschuldet, aber sicher auch kein zu vernachlässigender Aspekt der neuen Lebensträume.
Mit der Schrumpfung Grünaus geriet nicht nur die Stadt in Zugzwang, sondern in erster Linie auch die Wohnungsunternehmen, die einen erheblichen Teil ihrer Mieter und damit Einnahmen einbüßten. Während Politik und Verwaltung jedoch großflächigen Rückbau als einzig probates Mittel gegen den Leerstand favorisierten und finanziell unterstützten, gab sich die Wohnungswirtschaft nicht einfach damit zufrieden, ihre Bestände und damit gleichsam ihr Kapital aufzugeben.
Sie suchten nach Lösungen, um das Wohnen im Plattenbau wieder attraktiv zu machen - zunächst mit farbenfrohen Fassaden, neuen Balkonen oder Aufzügen. Vor allem Letzteres diente aber nicht nur der optischen Aufwertung, sondern ist in Zeiten des demografischen Wandels auch unausweichlich. Dass eine schicke Fassade jedoch noch lange kein Allheilmittel gegen Mieterschwund ist, dürfte dabei von Anfang an klar gewesen sein. Je nach finanziellem Spielraum bemühten sich die Unternehmen darum um weitergehende Veränderungen ihrer Wohnungen.
Heute ist es beinah bei jedem Neubezug möglich, eigene Vorstellungen und Wünsche in die Gestaltung der eigenen vier Wände einzubringen. Badgestaltung, Fußböden bis hin zu zusammengelegten Zimmern oder gar ganzen Wohnungen. Auch wenn man es den Häusern von Außen oft nicht ansehen mag, hinter manchem Fenster verbirgt sich Wohnraum, den man nie nach Grünau verorten würde und wenn Mieter bereit sind, dafür einen höheren Mietzins zu zahlen, gibt es kaum noch etwas, was es nicht gibt.
Klaudia Naceur