Grün-As
Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Mordshunger

Eine Mord- und Heimatgeschichte des Grünauer Autors Jürgen Leidert
Teil 21

Rietzschold ging zum Kautzbauer um nachzufragen: »Weißt du zufällig, wo die Stannebeins sind?«

»Nein, Olaf wollte schon vorgestern mir helfen, den Kuhstall auszumisten, faktisch hatte ich ihn schon dafür Vorschuss gegeben. Er war nicht da und gestern habe ich ihn holen wollen, aber keiner hat geöffnet.«

Rietzschold sagte drauf: »Vielleicht haben sich die zwei aus dem Staub gemacht, der Otto Schröer war bei den Burschen. Er hatte ihnen gesagt, sie müssten ins Heim, weil sie keinen Vormund haben. Davor hatten sie Angst, wollten nicht weg hier. Vielleicht hätten sie dem Wattel für den Endkampf noch eine Panzerfaust in die Hand gedrückt, ihn zum letzten Aufgebot geschickt. – Der Große hatte zu Olaf wohl gesagt, dass er dann abtauche. Vielleicht sind sie nun beide fort.«

»Da hilft wohl nur Abwarten, ob die wieder auftauchen. Sonst müssen wir mal den Gemeindediener Schröer fragen, ob der Näheres weiß? Dann, guten Tag noch!«

Nach sonnigen Ostertagen hatte nun Sturm und Regen die Tage danach dominiert. Tante Marla sang immer wieder mit, wenn es aus der Goebbelsschnauze ertönte: »In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine…« Wir Kinder waren jetzt darauf angewiesen, eine Woche zu Hause zu bleiben.

Mitte des Monats wurde es wieder sehr warm. Nun konnten wir wieder in der Natur unserem Treiben freien Lauf lassen, sofern es in dieser Zeit möglich war. Gefahren waren immer zu erwarten. Die Amerikaner hatten Leipzig erreicht. Mit letzten Straßenkämpfen war innerhalb von vier Tagen Leipzig eingenommen. Ab 19. April bestimmte die Militärpolizei in Stadt und Land.

Es hatte sich im Dorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass die Kinder der Stannebeins nach Ostern nirgends gesichtet wurden. Jetzt waren schon 14 Tage vergangen. Otto Schröer, der Gemeindediener wusste nicht, wo die Jungens abgeblieben sein könnten und machte sich selbst Vorwürfe. Noch ist Krieg und es gibt letzte Scharmützel mit Kindern als Soldaten, das letzte Aufgebot.

Haben sie sich dazugesellt, damit sie nicht ins Heim müssen? Aber der Gemeindediener wäre bestimmt informiert. Das Rätselraten wurde zunehmend größer. Bauer Oskar Kautz hatte immer wieder an die Haustür geklopft, in der Hoffnung, die Burschen könnten zurückgekehrt sein. Die Verdunklungsrollos waren runtergelassen. Niemand öffnete. Die Kerle haben sich dünne gemacht, dachte Oskar.

Die Nächte waren klar und frisch. Das Wattel hatte sich tagsüber eingeschlossen und auch keinen Ofen beheizt. Er hatte Angst, den qualmenden Schornstein könnte jemand entdecken. Nachts aber konnte er kein Auge zumachen, setzte sich hinter einen Geräteschuppen hinterm Haus auf eine kleine Holzbank. So konnte er im Dunklen nicht gesehen werden.

Wirre Gedanken gingen ihm durch den Kopf, wenn er seine nächtlichen Ausflüge vornahm. »Was wird bloß werden, wie kann es weitergehen«, befragte er sich selbst, oftmals zitternd und leise vor sich hin stammelnd.


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