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Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

12 leere Stühle - 12 Schicksale

Jüdische Schülerinnen der Max-Klinger-Schule

Wenn man in Leipzig durch die Gottschedstraße geht, bleibt man unwillkürlich vor den leeren Stühlen am Denkmal für die ehemals größte Synagoge Leipzigs stehen. Diese Synagoge wurde von den Nationalsozialisten am 9. November 1938, zur sogenannten »Reichskristallnacht«, in Brand gesetzt und damit zerstört.

Spricht man mit alteingesessenen Leipzigern so wird das jüdische Leben wieder lebendig. Es war damals selbstverständlich, dass man im Warenhaus Uri am Königsplatz, heute Wilhelm-Leuschner-Platz, oder bei »Held« in Lindenau einkaufte. Viele erzählen auch die Geschichte, dass Carl-Friedrich Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig 1930 - 1937, am Boykotttag der Nazis, am 4. April 1933, eben in diesem Kaufhaus »Held« in der Demmeringstraße Ecke Merseburger Straße eingekauft haben soll.

Neben seinen beiden Töchtern, besuchten auch mehrere jüdische Mädchen die Max-Klinger-Schule, die sich damals im Stammhaus in der Karl-Heine-Straße 22b befand. Schülerinnen und Schüler, die Berühmtheit erlangten, sind meist allen bekannt. Aber was wissen wir von diesen jüdischen Schülerinnen und ihrem Schicksal? Die Max-Klinger-Schule beschäftigte sich in einer Projektwoche 1993 mit der Geschichte der jüdischen Bevölkerung der Messestadt in der Zeit des Faschismus.

Der damalige Besuch in der Jüdischen Gemeinde in der Löhrstraße war nicht nur historisch sehr aufschlussreich, sondern die Schüler lernten auch die aktuellen Probleme kennen. Im Rahmen der Erforschung der eigenen Schulgeschichte begann nun auch die Spurensuche nach den Schicksalen der jüdischen Schülerinnen der Max-Klinger-Schule. Im Hauptbuch der Schule wurden von 1925 bis 1953 alle Schülerinnen und seit 1948 auch Schüler genauestens eingetragen. Die Religionszugehörigkeit war Bestandteil dieser Aufzeichnungen.

Doch zurück zum Denkmal mit den leeren Stühlen. Wir wissen jetzt, dass zwischen dem 1. April 1930 und 23. Dezember 1938 insgesamt 12 jüdische Schülerinnen die Max-Klinger-Schule besuchten. 12 leere Stühle? Ja. Doch hinter jedem dieser Stühle steht eine ganz persönliche Geschichte, die hier erzählt werden soll.

Der erste leere Stuhl erzählt die Geschichte von Rosa Szyja, einer Schülerin mit polnischer Staatsbürgerschaft, die 1920 in Leipzig geboren wurde und bis 1934 die Max-Klinger-Schule besuchte, bevor sie zur Annenschule wechselte. Die Annenschule befand sich im Stadtzentrum, in der Schillerstraße und wurde bei einem Bombenangriff vollständig zerstört.

Die Familie wohnte im eigenen Haus in der Schnorrstraße 20 und der Vater Jonas Chaim Szyja war Besitzer einer Flaschen- und Rohproduktenhandlung sowie weiterer Häuser in Leipzig. Am 28. Oktober 1938 wurden in der so genannten »Polenaktion« polnische Staatsbürger von den »Nationalsozialisten« nach Polen abgeschoben. Am Grenzbahnhof Zbszy (Bentschen) kam es zu tragischen Ereignissen.

Die polnischen Behörden weigerten sich die Abgeschobenen aufzunehmen. So mussten viele jüdische Bürger längere Zeit im Niemandsland campieren bevor die polnische Regierung einlenkte. Die Familie Szyja lebte dann von 1938 bis 1940 in Lodz in der ulica Przejazd 86. Nach der Eroberung durch die Deutsche Wehrmacht wurde die Familie im Ghetto Litzmannstadt untergebracht. Hier versuchten sie in einem Zimmer für vier Personen ohne Küche in der ulica Wawelska/ Sattlerstraße 24 / Wohnung 2 zu überleben.

Die ehemalige Schülerin der Max-Klinger-Schule und gelernte Kontoristin wurde vom Ältestenrat der Juden im Ghetto Litzmannstadt unter der Nummer 26.22 II am 4. Juni 1940 registriert. Am 22. Juli 1942 zog die Familie um und einen Monat später die Heirat mit Josif Jechok Rozenwesser. Das freudige Ereignis einer Hochzeit wurde durch den Tod der Mutter von Rosa, Frieda Jitka Szyja am 15. März 1943 getrübt. Die allgemeine Lebenssituation im Ghetto verschlechterte sich immer mehr.

Die Besatzer beschlossen, das Ghetto Litzmannstadt im August 1944 vollständig zu räumen. Die letzten Züge von Litzmannstadt ins Konzentrationslager Auschwitz fuhren vom 9. bis 29. August 1944. In dieser Zeit erfolgte auch die Deportation von Rosa Szyja, die ohne im Lager Auschwitz-Birkenau offiziell aufgenommen worden zu sein, sofort ermordet wurde. Nur ihr Bruder Robert überlebte den Holocaust, kehrte 1945 nach Leipzig zurück und übersiedelte später in die USA.

Ein ähnliches Schicksal ereilte die ehemalige jüdische Schülerin Berta Rosenfeld, die mit ihrer Familie im Konzentrationlager Belzec ermordet wurde. Auch hier überlebte der Bruder Josef, der nach dem Krieg in Israel lebte. Zwei leere Stühle - zwei tragische Schicksale.

Ein weiterer leerer Stuhl steht für das Schicksal von Renate Sophie Cerf, die bis zum 31. Juli 1934 die Max-Klinger-Schule besuchte. Ihren Eltern gelang es, seit 1933 ihre Auswanderung vorzubereiten. Ihr Vater Dr. jur. Erich Cerf war Rechtsanwalt in Leipzig, Im August 1934 verließ die Familie Cerf mit dem Auto Deutschland über vorgeschriebene Grenzübergangsstellen der Schweiz und Frankreich, um von Villafrance mit dem Schiff nach Palästina zu gelangen.

Sie überlebte den Holocaust, kehrte 1987 nach Deutschland zurück und verstarb ein Jahr später in der Nähe von Frankfurt am Main. Auch Salome Dessan, Gabriele Susanne Rosenthal, Elena Matzkewitz und Ruth Hacker emigrierten nach Australien, England, Dänemark und Palästina.

Fünf Stühle bleiben leer. Bisher war es nicht möglich, etwas über den Verbleib von Anni Luise Liffmann und ihrer Schwester Ursula Liffmann, Anna Brigitte Steinfeld, Ilse Marie Seckbach und Annelore Hildegard Hofstein herauszufinden. Zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2014 stellte die Max-Klinger-Schule Schicksale ihrer jüdischen Schülerinnen in einer kleinen Ausstellung vor.

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