Weniger zu mehr erklären
Bibliothek Grünau-Mitte soll Bildungs- und Bürgerzentrum werden
Wenn Länder, Städte oder Unternehmen Standorte zusammenlegen wollen, beschwören sie in der Regel »Synergieeffekte« und stellen eine Reihe positiver Auswirkungen in Aussicht. Das ist ein normales Vorgehen, wer etwas verkaufen möchte, preist die Vorzüge seiner Ware, Nachteile werden eventuell auf Nachfrage eingestanden. Aktuell und konkret soll die Bibliothek Grünau-Mitte zum Bildungsund Bürgerzentrum (BBZ) ausgebaut werden. Der Stadtrat wird sich im April mit der Angelegenheit beschäftigen. »Verkäuferargumente« sind unter anderem die Bündelung und Verbesserung der Angebote der Grünauer Bibliotheken.
Da stellen wir Fragen: Ist Bündelung an sich gut? Was wird in welcher Form verbessert? Und verbessert für wen? Das BBZ soll neben der Bibliothek die Außenstelle der Volkshochschule (VHS), das Bürgeramt sowie den Stadtteilladen beherbergen. Aus vielen Anlaufpunkten im riesigen Neubaugebiet wird einer. Ist das ein Vorteil für die Bewohner? Brauchen die ein »Leuchtturmprojekt«? Wären mehrere nicht besser? Im Idealfall in jedem Wohnkomplex eins?
Die Stadt spricht im genannten Zusammenhang von »Chancengleichheit und Beteiligung«. Wenn die Bibliotheken Grünau-Nord und -Süd geschlossen werden, und das werden sie, sobald das BBZ kommt, haben die meisten Grünauer weitere Wege. Worin bestehen da Chancengleichheit und Beteiligung? Angeführt als Grund für die Veränderung wird zum Beispiel die eingeschränkte Barrierefreiheit in zwei von gegenwärtig drei Standorten. Das Gebäude der Bibliothek Grünau-Süd ist für Rollstuhlfahrer »voll zugänglich« (www.leipzig.de).
Für die Betroffenen brächte die angestrebte Zusammenlegung also keinen Vorteil – sie können jetzt eine Bibliothek in Grünau nutzen und danach auch eine. Mehr gibt es ja dann nicht mehr. Es folgen die altbekannten Formulierungen von »niedrigschwelligen« und für die »Nutzerinnen und Nutzer attraktiven« Angeboten. Für alle, die nicht in der Nähe der angestrebten Zentrale wohnen, sondern von dieser aus gesehen am Rand, werden die Angebote mit der neuen Entfernung aber weder niedrigschwelliger noch attraktiver.
Schon eine Straßenbahnhin- und -rückfahrt zu Leipziger Preisen lässt garantiert so manchen auf den Besuch des BBZ verzichten. Die Rechtfertigung, dass es nach der Zentralisierung möglich sei, »die Wartezeiten beim Bürgeramt für den Besuch der Bibliothek oder die Information über das VHS-Angebot« zu verwenden, wirkt äußerst theoretisch. Wer weiß denn beim Warten, wie lange es dauert, und hat die Muße, sich beim Amtsgang etwas anderem zu widmen?
Nutzerorientiert, wenn das wirklich die Prämisse ist, wäre, mehr Mitarbeiter im Bürgeramt zu beschäftigen, um die Wartezeiten zu verkürzen. Nutzerorientiert wäre ebenso, die »limitierten« Öffnungszeiten der drei in Grünau vorhandenen Bibliotheken auszuweiten und auch hier ein paar Leute mehr einzustellen. Oder stehen statt der Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer etwa doch die Kosten im Mittelpunkt des städtischen Interesses? Es existiert eine »Kalkulatorische Kostengegenüberstellung«, aus der man ablesen kann, dass die Beibehaltung des Status quo die deutlich günstigste Variante wäre.
An dieser Stelle wird die Sache verrückt. Warum nur wollen die Verantwortlichen unbedingt einen Leuchtturm errichten und aus mehreren Anlaufpunkten einen einzigen machen, wenn sie dabei noch nicht einmal sparen? Man reibt sich die Augen und staunt noch mehr. Über das offensichtlich fehlende Parkplatzkonzept des neuen BBZ in der Stuttgarter Allee. Vor allem jedoch über die sehr wahrscheinlich veraltete gedankliche Basis der ganzen Angelegenheit.
Die geht nämlich auf das Jahr 2008 zurück, damals galt Leipzig als schrumpfende Stadt. Im Vorwort des Integrierten Stadtteilentwicklungskonzepts Leipzig-Grünau schreibt Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau Ende 2017: »Seit reichlichen fünf Jahren wächst die Einwohnerzahl Grünaus wieder … Mit dem allgemeinen Wachstum scheinen zunächst viele Fragen zur Zukunft Grünaus obsolet. Kein Rückbau mehr«. Mit den zuzugsbedingten »Aufgaben und Herausforderungen steigt auch der Bedarf an sozialer Infrastruktur im Gebiet, für deren Erhalt, Qualifizierung und Erweiterung unterstützend Städtebaufördermittel in Anspruch genommen werden müssen.«
Kein Rückbau mehr! Erhalt! Erweiterung! Im Konzept wird später festgestellt, dass »zusätzliche Angebote nötig« seien, die städtische Musikschule »Johann Sebastian Bach« dezentral agiere, ebenso die VHS, letztere an zirka 20 Standorten im Stadtteil. Unter Punkt 2.7.3. (»Soziale Einrichtungen«) ist sogar zu lesen: »Die Anpassung der sozialen Infrastruktur wurde bislang vor dem Hintergrund des Bevölkerungsverlustes vollzogen, was zumeist eine Konzentration von Einrichtungen im Zentrum zur Folge hatte. Eine neue räumliche Investitionsstrategie muss sich nun stärker den räumlich differenzierteren Anforderungen stellen.« Das ist das Gegenteil der bei den Bibliotheken verfolgten Vorgehensweise!
Und damit nicht genug, im Zusammenhang mit der Profilierung der Quartierszentren (also: mehreren) ist von »wohnortnaher Versorgung« die Rede und folgende Feststellung zu finden: »Zum anderen müssen neben der reinen Einzelhandelsfunktion weitere Nutzungen etabliert werden, die für das jeweilige Zentrum als Anker fungieren«. Dezentrale städtische Einrichtungen böten sich als Anker geradezu an. Ein letztes Zitat aus dem Stadtteilentwicklungskonzept für Leipzig-Grünau lautet: »Dem Fehlen dringend benötigter Angebote für Kinder und Jugendliche in Grünau-West soll durch die Etablierung zusätzlicher Angebote an dieser Stelle nachgekommen werden.«
Die Bibliothek Grünau-Nord befindet sich in Grünau-West, man könnte sie ausbauen. Stattdessen wiederholt die Stadt überwunden geglaubte Fehler und zieht den Verkauf der Bibliotheksgebäude in der Plovdiver Straße (Nord bzw. West) und An der Kotsche (Süd) »zur partiellen Deckung der Investitionskosten« in Erwägung, erklärt eine Veräußerung in ihrer Vorlage für das BBZ sogar zum Ziel. Der Stadtrat soll nun, nach zehn Jahren Planung, im Grundsatz beschließen, ob das BBZ am Standort der heutigen Bibliothek an der Stuttgarter Allee überhaupt entstehen soll. Mit dem Bau begonnen wird dann zwar frühestens 2021, aber jetzt werden die Weichen gestellt. Die Abgeordneten haben die Gelegenheit, noch einmal nachzudenken und die veralteten Pläne zu ändern.
Schatzkammern des Wissens
Als »Schatzkammern des Wissens« wurden die drei Bibliotheken in Grünau im Oktober 2010 vom Quartiersrat Grünau und dem Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung bezeichnet, nachzulesen in der Broschüre »Grünau zeigt Profil«. Die Rede ist von »hervorragender Bildungsinfrastruktur« und den »entsprechenden technischen Voraussetzungen zur Mediennutzung vor Ort«. Die Volkshochschule in Grünau nennt man einen Atemzug weiter »Volkshochschule der kurzen Wege«. Jetzt aber soll der Leuchtturm kommen, das Zentrum des Stadtteils gestärkt werden. Warum?
Die Besonderheit des Projekts liege in der Verbindung und Kooperation mehrerer Einrichtungen der Stadt Leipzig an einem Standort. So wird die letzte verbleibende »Schatzkammer« zum »attraktiven ›Warteraum‹ des Bürgeramtes« – unter anderem. »Richtig ist, dass die Wege für einige Grünauer weiter werden«, räumt die Stadt ein, »die Erreichbarkeit lässt sich jedoch nicht nur an der Distanz festmachen, die zu überwinden ist, um bestimmte Angebote wahrzunehmen. Erreichbarkeit heißt auch, dass die Angebote so gestaltet sind, dass sie gern angenommen werden.«
Folgen wir diesen Worten, dann sollten wir gleich in die schöne Stadtbibliothek am Leuschnerplatz fahren beziehungsweise in die unbestritten attraktive Volkshochschule in der Löhrstraße und so das Zentrum der gesamten Stadt stärken. Je nachdem, was einem wichtig ist – kurze Wege oder weithin sichtbare Leuchttürme.
Bert Hähne