Editorial
Neubaugebiet
Liebe Leserinnen und Leser, wenn ich die Worte »Plattenbau« oder »Platte« höre, ist mir immer so, als schwinge etwas Negatives mit. Ich denke, so ist ihr Gebrauch auch gemeint. Deswegen nenne ich Grünau Neubaugebiet und nicht Plattenbauviertel.
Und ich staunte nicht schlecht, als ich vor wenigen Monaten in Lindenthal sah, wie Einfamilienhäuser aus vorgefertigten Elementen zusammengesetzt wurden – aus Platten. Doch niemand hätte das an dieser Stelle so formuliert, wahrscheinlich waren das »Module«.
Als Jugendliche sagten wir »Schlammhausen« zu Grünau. Wir mussten Gummistiefel tragen, wenn wir über die Baustelle in die Schule liefen, in der wir dann Hausschuhe (!) anzogen, was auch verrückt, wenngleich doch logisch war. Hinter der Schule, wo sich heute ein Sportplatz befindet, lockten damals Kies und Wasser – ein Abenteuerspielplatz. Und in den Sechzehngeschossern gab es ganz oben Wohnungen über zwei Etagen – die gibt es immer noch, aber kaum noch Sechzehngeschosser, zumindest in Grünau.
All meine Mitschüler wohnten in zwei Straßen! Das waren kurze Wege. Im Keller bastelten wir an Tandems, deren Gestelle wir uns zuvor im Bauhof Miltitz aus ausrangierten Fahrrädern hatten zusammenschweißen lassen. Mit diesen Gefährten unternahmen wir Ausflüge nach Lützen, Merseburg und Bad Dürrenberg sowie in all die Stadtteile, aus denen wir Grünauer stammten – Gohlis, Sellerhausen, Volkmarsdorf, Wahren. Wir spielten Fußball gegen unsere alten Klassen, tranken die ersten Biere in den Rosensälen und tanzten in der Galaxis.
Am liebsten aber waren wir am Kulkwitzer See, badeten am Steilufer, überquerten das Gewässer vom Roten Haus hinüber nach Markranstädt (nicht ohne eine Luftmatratze für etwaige Notfälle infolge der gefürchteten Wadenkrämpfe mitzuführen) oder saßen im Zeltplatzkino vorne am Schiff. In einem Winter konnten wir sogar mit Skiern auf dem See herumfahren. Ich sage »herumfahren«, weil wir uns im Kreis bewegt hatten. Zu Schnee und Eis hatte sich Nebel gesellt, was dazu führte, dass wir auf unsere eigenen Spuren stießen.
Heute wohne ich »im Ziegel«, um auf den Einstieg mit der Platte zurückzukommen, ganz in der Nähe. Meine Kinder gingen fast in meine Schule, nur ein Gebäude weiter. Regelmäßig bin ich in Grünau, zum Einkaufen, Kaffeetrinken oder Spazieren. Neugierig registriere ich dann Veränderungen sowie das, was geblieben ist, die Sechsgeschosser, die Straßen mit Planetennamen oder den wahrscheinlich für ganz Leipzig letzten Zeitungskiosk dieser Art gegenüber der ehemaligen Gaststätte zur Windmühle.
Ab sofort werde ich noch öfter und noch neugieriger im Stadtteil meiner Jugend unterwegs sein, denn ich gehöre nun zur Redaktion des »Grün-As«.
Ihr Bert Hähne