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Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Die andere Straßenbahnballade

Theatrium stellt Borchert-Texte unter dem Titel »Die lange lange Straße lang« eindrucksvoll vor

Wenn ich bisher den Namen »Borchert« hörte, dann sah ich immer den Beckmann aus »Draußen vor der Tür« in der Inszenierung an der Dessauer Bauhausbühne der 1980er Jahre mit Gasmaskenbrille und verschlissenem Militärmantel herumhumpelnd.

Und: Am Ende des Stücks war eine solche Spannung und Betroffenheit im Saal, dass Applaus für die hervorragende schauspielerische Leistung erst nach einer langen Bedenkzeit tröpfelnd begann. So viel Gänsehaut habe ich selten wieder erlebt.

Jetzt, nachdem ich die Inszenierung des Theatriums gesehen habe, wird diese Erinnerung überlagert von dem Eindruck, der beginnend mit dem Eintritt in den Saal, der kriegsversehrte Leutnant Fischer – einem Wiedergänger des Unteroffiziers Beckmann – auf Krücken gestützt, bei der Jagd nach der Straßenbahn bei mir hinterlassen hat. Der titelgebenden Erzählung entsprechend geht die Jagd durch eine endlos lange Straße – durch Videoinstallationen ist man mitten im Leipziger Geschehen, und in der Gegenwart – der Leutnant Fischer kehrt vom Kriegseinsatz in Syrien heim!

Grauenerregendes Geräusch leitet jeweils den Wechsel der Perspektive von der Leipziger Petersstraße zum zerstörten Aleppo ein. Leutnant Fischer wird von den gleichen Alpträumen und Zweifeln geplagt, wie die Titelfigur in Daniil Granins Novelle »Unser Bataillonskommandeur« aus den 1969er Jahren, einem ungeschönten Blick auf die Grausamkeiten des Krieges.

Fast zeitgleich zu Borcherts Texten, nämlich 1948, beschreibt Heinrich Böll in seiner Erzählung »Das Vermächtnis« die Erfahrungen des Kriegsheimkehrers Wenk und davon, wie dieses sich entwickelnde andere Deutschland sehr schnell dabei ist zu vergessen. Für Wenk ergibt sich daraus »Wir sind geboren, um uns zu erinnern. Nicht Vergessen, sondern Erinnerung ist unsere Aufgabe«.

Und genau in diesem Sinne ist das Projekt des Theatriums einzuordnen. In »Die lange, lange Straße« erinnert sich Leutnant Fischer:« Dann haben sie 57 bei Woronesh begraben. Vorher haben sie noch gesungen. Hinterher haben sie nichts mehr gesagt. 9 Autoschlosser, 2 Gärtner, 5 Beamte, 6 Verkäufer, 1 Friseur, 17 Bauern, 2 Lehrer, 1 Pastor, 6 Arbeiter, 1 Musiker, 7 Schuljungen.«

Bei Böll heißt es mit dem gleichen Tenor: »Wir waren noch stolz darauf, in Erdkunde und Mathematik ›Gut‹ zu haben, als man uns zwang, uns die Menschen anzusehen, denen man kunstgerecht eine Maschinengewehrsalve in den Bauch geschossen hatte. … sie sahen alle gleich aus, die, die in Latein ›Gut‹ hatten, und die, die nie etwas von Latein gehört hatten ... Sie alle waren gleich, Polen, Deutsche und Franzosen, Helden und Feiglinge.«

Geschickt ist es der Truppe um Regisseur Falko Köpp gelungen, Texte aus verschiedenen Prosastücken Borcherts, so unter anderem aus »Bleib doch, Giraffe«, »Nachts schlafen die Ratten doch«, »Die Küchenuhr«, »Der Kaffee ist undefinierbar« wie eine Collage zusammenzustellen und sie dennoch gekonnt durch unterschiedliche Techniken voneinander abzugrenzen. Szenen auf der Bühne werden abgelöst von auf Videoleinwänden projizierten. Das ist etwas anderes, als nur einen Blick durchs Fenster zu werfen, das grenzt ab und verschafft dennoch das Gefühl unmittelbar dabei zu sein. Es gelingt den Akteuren sehr gut, das oft stakkatohafte von Borcherts Sprache wiederzugegeben, Unrast und Angst vor den grausamen Bildern der Erinnerung spürbar zu machen.

Leise Töne wechseln sich dabei ab mit chorischen Elementen, wie zum Beispiel bei »Generation ohne Abschied«, bis die Schlussszene den Bogen gekonnt zum Hier und Heute spannt, Ursachen und Hintergründe von Krieg und Elend benennt. Wie sehr uns Borcherts Texte aus einem anderen Krieg – aber nicht aus einer anderen Welt! – angehen, wird deutlich, wenn wir an die aus dem Afghanistankrieg (und von anderen Kriegsschauplätzen) zurückkehrenden Bundeswehrsoldaten denken. Die Eröffnung des Berliner Traumazentrums für Bundeswehrsoldaten im Jahr 2010 ist dafür nur ein Anzeichen, die in diesem Jahr geplante Umbenennung der Emmich-Cambrai-Kaserne in Hannover in Erinnerung an einen 2011 in Afghanistan gefallenen Feldjäger, damals 31-jährig, ist mit Sicherheit noch nicht das Ende auf dem langen Weg zum »Ernstfall Frieden«.

Dem Stück des Theatriums wünsche ich viele interessierte Partner, die dafür sorgen, dass Borcherts Texte an viele Schüler und junge Erwachsene herangetragen werden.


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