Editorial
Besuch aus Kiew
Liebe Leserinnen und Leser, möglicherweise ist Ihnen aufgefallen,dass in der Woche vor Pfingsten eine Gruppe interessierter Männer und Frauen kreuz und quer durch Grünau geführt worden ist und unter anderem Kindergärten, Schulen, den Stadtteilladen oder den Kolonnadengarten in der Alten Salzstraße besuchte. Es handelte sich um eine Delegation aus unserer Partnerstadt Kiew, genauer aus dem dortigen Neubaugebiet Darnyzja, welches rund zehnmal so groß wie Grünau ist. Geschichtlich und baulich bestehen Gemeinsamkeiten.
Die Gäste aus den Bereichen Stadtverwaltung und Bildung wollten erfahren, wie ihre Kolleginnen und Kollegen hierzulande arbeiten, wie die Strukturen sind, welche Probleme es gibt und wie man sie zu lösen versucht. Stefan Geiss vom Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung und Eike Sievers vom Stadtplanungsamt zum Beispiel stellten die Entwicklung unseres Stadtteils aus kommunaler Sicht vor und kamen dabei auch auf Zahlen zu sprechen. So gehe die Stadtgegenwärtig von einem weiteren Zuzug aus, Leipzig solle von heute 590.000 auf 770.000 Einwohner im Jahr 2030 anwachsen, Grünau von aktuell zirka 43.000 auf 45.000 bis 50.000.
Von dadurch notwendigen Schul- und Wohnneubauten war die Rede. Die Ukrainer erkundigten sich unter anderem, wer das Geld dafür zur Verfügung stelle und wem die Häuser, wenn Fördermittel oder Zuschüsse fließen, im Anschluss gehörten. Antwort: »Dem Investor.« Für uns logisch, für sie nicht. Denn in Darnyzja und dem gesamten Land sind die Wohnungen Eigentum der einstigen Mieter, nach dem Ende der Sowjetunion lief die »Privatisierung« diesbezüglich ein wenig andersab als bei uns. Aber auch das bringe Konflikte mit sich, für gemeinschaftlich genutzte Anlagen, wie Fahrstühle oder Grünflächen, fühle sich keiner verantwortlich. Wie geht man da bei Zehntausenden Anteilseignern vor?
Über das hiesige Problem der Schulabbrecher wunderte man sich. Soetwas gebe es in der Ukraine nicht, dort herrsche Schulpflicht und die werde durchgesetzt. Und wenn hier für den Unterricht geeignete Gebäude knapp wären, warum gingen die Kinder dann nicht in zwei Schichten zur Schule? Antwort: Weil auch die Lehrer fehlen. – Wie sollman das als Außenstehender begreifen? Ist Deutschland denn nicht reich und gut organisiert?
Die unerwarteten Fragen und anderen Herangehensweisen der Kiewer Gäste könnten zu der Erkenntnis führen, dass nicht alles, was wir und unsere Verwaltung tun, der Weisheit letzter Schluss sein muss. Ein im Herbst geplanter Gegenbesuch in Darnyzja dürfte demnach für die Leipziger Seite sehr interessant werden.
Ihr Bert Hähne