Quartiere auf noch sehr lange Zeit
Vorgestellte Forschung zu Leipzig-Grünau
Gleich zu Beginn des gerade ausklingenden Grünauer Kultursommers stand am 18. Juni im Stadtteilladen Baukultur im weitesten Sinne im Mittelpunkt einer öffentlichen Buchpräsentation. Da die Ergebnisse von Forschungen in und zu Leipzig-Grünau in »Großwohnsiedlungen im Haltbarkeitscheck« einen breiteren Raum einnehmen, war hier der passende Ort. Die Teilnehmerzahl war überschaubar, die Dominanz städtischer und UFZ-Mitarbeiter deutlich. Der vorgestellte Sammelband enthält 14 Beiträge von 22 Autoren (Wissenschaftler, Planer, Vertreter der Wohnungswirtschaft und von Stadtverwaltungen). Darin geht es um eine aktuelle Bestandsaufnahme und Reflexion der Situation ostdeutscher Großwohnsiedlungen – ergänzt durch zwei englische Beiträge aus Polen und Tschechien.
Sigrun Kabisch vom UFZ, eine der drei Herausgeber und Autorin, vielen sicherlich im Zusammenhang mit der Intervallstudie Grünau bekannt, übergab nach einer kurzen Einführung an Uwe Altrock (Kassel, auch Herausgeber und Autor). Der begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass Großwohnsiedlungen natürlich differenziert zu betrachten sind – in Abhängigkeit von Rahmenbedingungen wie Lage und demografischer Entwicklung, zum Teil auf Rückbau ausgerichtet, aber derzeit noch gebraucht. Interessante Stichworte hinsichtlich weiterer Entwicklung waren: keine Zerstörung gestalterischer Ressourcen (wie Gliederung von Straßenfassaden, Son derbauten, Zentrumsbereiche, Schmuckelemente), funktionale Stärkung von Räumen mit Aufenthaltsqualität, Würdigung der Entstehungsgeschichte, Stabilisierung »entwurflich komponierter Zentrumsbereiche«, neuer gestalterischer Umgang mit vernachlässigten Bereichen. Für Großwohnsiedlungen als »Quartiere auf noch sehr lange Zeit« solle Aufwertung ausgerichtet sein auf die Lebensrealität und die Bedürfnisse der Bewohner unter Nutzung der vorhandenen Ressourcen »bei den Bewohnerinnen und Bewohnern, aber auch in der der städtebaulich-gestalterischen Gewordenheit« des Gebietes selbst.
Max Söding (UFZ, Autor), Mitwirkender an der Intervallstudie Grünau, verwies im Ergebnis der Untersuchung 2015 auf die starke räumliche Differenzierung Grünaus. Selbst innerhalb von Ortsteilen wie beim Beispiel Grünau-Mitte sind bestimmte Teilräume zu unterscheiden. Auch Bewohnergruppen unterscheiden sich − unter anderem in ihren Beziehungen zum Stadtteil.
Annegret Haase (UFZ, Autorin) führte im Rahmen eines EU-Projektes Interviews in Grünau durch, um daraus Erkenntnisse hinsichtlich sozialer Heterogenität und Zusammenhalt zu gewinnen. Wie nicht anders zu erwarten, ist bei den alteingesessenen Grünauern der Zusammenhalt nach wie vor groß. Zuzug wird zwar positiv, aber auch mit gemischten Gefühlen gesehen. Am Ende steht die These, dass der soziale Zusammenhalt in Grünau an einem möglichen Wendepunkt steht. (Wer hätte das gedacht! Und in so einer Situation scheint sich die Stadtverwaltung immer mehr aus Grünau zurückzuziehen. Zu den Befragungen sei noch ergänzend hinzugefügt, dass die Aussagekraft von Interviews doch als begrenzt anzusehen ist. Möglicherweise wollte man bei den Antworten lieber unverbindlich freundlich sein.)
Dass es zwischen Großwohnsiedlungen in Ostdeutschland und in Polen und Tschechien große Unterschiede gibt, wurde in den Vorträgen von Ewa Szafranska (Universität Łodz, Autorin) und Michal Kohout (Universität Prag, Autor) deutlich: hoher Grad an Privatisierung, kein Leerstand, kein Abriss, keine Problemgebiete. Aber auch hier gibt es Weiterentwicklungen durch Wohnungsneubau einschließlich »gated communities« (geschlossener Gebiete), Wärmedämmung, farbliche Gestaltung, Gewerbegebäude, Aufwertung öffentlicher Räume …
In der Diskussion wies Stadtrat Siegfried Schlegel darauf hin, dass bei »Rückbau und Aufwertung« zwar in Grünau abgerissen wurde, Aufwertungsmaßnahmen aber wo anders umgesetzt wurden. Wichtig sei die Schaffung von Arbeitsplätzen und dass die derzeitige Politik unbedingt den Mietwohnungsbau als notwendig anzusehen habe. Kritisch zu sehen sei die Privatisierung öffentlicher Räume. Im Gegensatz zum östlichen Europa mit dem hohen Privatisierungsgrad bei den Wohnungen − was viele Eigentümer bedeutet und folglich schwierig zu managen ist − sind in Ostdeutschland große Bestände kommunales oder genossenschaftliches Eigentum und nicht ausschließlich renditeorientiert, wie Karsten Gerkens (ASW) anmerkte.
Im zweiten Teil der Veranstaltung erläuterte Annegret Kindler (UFZ) anhand der ausgehängten großformatigen Karten, wie sich die Eigentumsverhältnisse in Grünau verändert haben. Leider stammte die Kartengrundlage von 2010, wo Entwicklungen der letzten Jahre nicht verzeichnet sind. 2016 befanden sich in Grünau 7% der Gebäude in kommunalem, 40% in genossenschaftlichem und 23% in privatem Eigentum. 30% waren öffentliche Gebäude.
Einige Verwirrung rief die Verwendung des Begriffs »Rückbau« hervor, der ja im allgemeinen Sprachgebrauch etwas freundlicher klingend für Komplettabriss verwendet wurde. Wenn man tatsächliches Zurückbauen (Etagen abtragen) meint, ist von Teilrückbau zu sprechen. So auch bei Projekten der Wohnungsbaugenossenschaften Kontakt (WK 7) und Unitas (WK 5.1).
Die Frage von Stefan Geiss nach den Strategien international agierender privater Eigentümer in Großwohnsiedlungen blieb im Raum stehen. »Schwierig«, wie Sigrun Kabisch meinte.
Im dritten Teil ging es um die Publikation des UFZ »Leipzigs kleinere Großwohnsiedlungen im Blick«, die dann auch an die Teilnehmenden verteilt wurde. Im Rahmen eines studentischen Projektseminars wurden 13 solche Gebiete untersucht und nach einheitlichem Schema dargestellt. Etwas unklar war den Zuhörenden die Einbeziehung von Paunsdorf-Kiebitzmark. Wie Siegfried Schlegel erklärte, sind Heiterblick und Kiebitzmark zusammen zu betrachten und letztere demzufolge keine kleine Großwohnsiedlung. Erwähnenswert sei auch noch, dass kleinere Siedlungen die vorhandene Infrastruktur im Umfeld nutzen konnten, wogegen bei Paunsdorf und Grünau an alles gedacht und alles neu geplant werden musste.
Wie das bei solchen Veranstaltungen oftmals so ist, waren die Begegnungen und Gespräche im Anschluss am interessantesten. Überall standen Grüppchen, diskutierten, es gab Anregungen und Kommentare, neue Kontakte wurden geknüpft.
Fazit: Die Herausgeber und Autoren haben ihr Wissen und ihre Forschungsergebnisse zusammengetragen und somit für die Nachwelt erhalten. Aber beschriebene »Entwicklungstrends (können) kaum verallgemeinert werden«, wie auf dem Buchdeckel zu lesen ist. Die Herausforderungen vor Ort sind vielfältig, der vor einigen Jahren entstandene Optimismus hinsichtlich der Zukunft des Stadtteils wirkt – vorsichtig ausgedrückt – gedämpft. Noch ist jedoch der Anteil Alteingesessener recht hoch, und glücklicherweise gibt es Wohnungsunternehmen, die sich verantwortungsvoll in die Stadtteilentwicklung einbringen.
Evelin Müller