Ingeborg Wattler
»Eigentlich«
, sagt Ingeborg Wattler »habe ich den Zeitungen schon alles
erzählt. Die wollen doch immer das Gleiche wissen.«
Einst hatte ihr Mann der LVZ gesagt, dass
sie - die Wattlers, die ersten Mieter einer Wohnung im neu entstehenden Stadtteil - »mit Herz,
Seele und Verstand«
Grünauer seien. »Das haben sie ihm in den Mund gelegt. Das hat er
ja gar nicht so gesagt.«
Dann steht Ingeborg Wattler auf und geht zu ihrer Schrankwand, holt alte Fotos und Zeitungsartikel
heraus, breitet sie auf dem Esstisch aus und beginnt schließlich doch zu erzählen.
In Gohlis haben die Wattlers gewohnt, zusammen mit ihren beiden, fast erwachsenen Töchtern.
»Dort war es immer kalt, die Toilette auf dem Hof, die Wände nass und schimmlig.
Kurz gesagt: Ein Loch. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.«
Gohlis, so meint die heute 69-Jährige, habe ihr zwar gefallen, aber die Wohnung sei eine Zumutung gewesen.
Was habe sie nicht alles unternommen, um vom Wohnungsamt eine Zuweisung für eine bessere
zu bekommen… Der Zufall half.
1977 wurde ihr Mann - ein Zimmermann - für seine Leistungen im Betrieb ausgezeichnet und bekam eine schicke Drei-Zimmer-Wohnung im ersten nagelneuen Block des noch jungen Stadtteils.
»Bis dahin kannten wir in der Gegend nur die Meyerschen Häuser und hätten nie gedacht, dass es
uns mal dorthin verschlägt. Nach der Zuweisung am 14. September ging alles ganz schnell.
Am 3. November bekamen wir den symbolischen Schlüssel überreicht«
, erinnert sich Ingeborg Wattler. Das
gute Stück hat sie noch heute im Korridor hängen. Knapp zwei Wochen nachdem sie den Schlüssel
bekommen hatten, zogen sie in ihr neues Heim. Mit ihrem alten 311-Wartburg fuhren sie ihr Hab und
Gut nach Grünau. Das meiste wurde jedoch neu gekauft, denn die ältere der beiden Töchter blieb
in der alten Wohnung.
»Wir haben uns gleich wohl gefühlt. Auch wenn bei Weitem noch nicht alles perfekt und es erst
zwei bis drei Jahre später richtig schön war.
Wie das hier anfangs aussah…«
, kommentiert die Rentnerin ein Foto, was sie gerade zur Hand nimmt.
Nackter Beton und ein paar Mülltonnen inmitten einer schier endlosen Schlammwüste sind darauf zu
erkennen.
Später habe man in so genannten Aufbaustunden den Trockenplatz selber errichtet. Auch davon gibt es
Fotos. »Die Bilder«
, meint Ingeborg Wattler »hat alle mein Mann geknipst.
Er hat auch jeden Schnipsel
gesammelt, auf dem etwas über Grünau stand.«
Und so liegen zwischen den Fotos, die den Beginn Grünaus
dokumentieren oder aber von fröhlichen Hausgemeinschaftsfeiern zeugen auch etliche
Zeitungsausschnitte.
Nicht selten mit Zitaten der Wattlers selbst. »Einmal«
, erinnert sich die erste Günauerin,
»bekam ich einen
wütenden Anruf von einer Frau. Beschimpft hat sie mich und gefragt, wie ich nur behaupten könnte,
dass Grünau schön ist. Ich kann doch aber nichts dafür, wenn es Jemandem nicht gefällt. Ich spreche
nur für mich und ich fand’s hier immer schön«
, meint sie und schüttelt traurig den Kopf.
Natürlich habe sich das Leben in Grünau nach der Wende verändert und wenn die Bewohner des Stadtteils
hier weggehen, weil sie keine Arbeit haben, so könne sie das durchaus verstehen. Ingeborg
Wattler arbeitete einst als Zimmerfrau im Bauarbeiterhotel bis sie in Rente ging: »Ich musste damals
nur über die Straße laufen und war an meinem Arbeitsplatz«
, erinnert sie sich an ihren täglichen
Weg.
»Auch sonst hatte und hat man eigentlich alles direkt vor der Nase. Kaufhalle, Konsum, S- und
Straßenbahn, Gaststätten und später kamen noch die Center dazu. Das einzige, was ich ein wenig
bedaure, ist die Anonymität in den Häusern. Jeder macht die Tür hinter sich zu, Kontakte gibt es sehr
selten. Das war früher ganz anders.«
In ihren eigenen vier Wänden, sorgt Jacob, ein Graupapagei, dem
ihr Mann das Sprechen beigebracht hat, für Unterhaltung.
Außerdem habe sie nette Freundinnen in der Nachbarschaft gefunden, mit denen sie ab und an beim
Kaffeekränzchen zusammensitzt und die neuesten Neuigkeiten austauscht.
»Sicher ist in Grünau nicht alles perfekt und es muss noch an einigen Ecken etwas passieren«
, sagt
Ingeborg Wattler während sie dicke Mappe mit Fotos und Zeitungsartikeln wieder in der Schrankwand
verstaut. »Aber ich bin froh, dass ich hier wohne und mich kriegt hier keiner mehr weg.«
Klaudia Naceur