Matthias Müller-Findling
»Das Projekt ist kein betreutes Saufen!«
In die Selliner Straße 1 zieht ab Mitte Dezember neues Leben ein, und zwar altes. Was im ersten Moment verwirrend klingt, ist eigentlich ganz einfach: Der PH 6 bekommt fünf neue Bewohner und alle sind sie jenseits der 55 - der älteste sogar 76. Dies ist aber nicht die einzige Besonderheit. Denn die vier Männer und eine Frau beziehen erstmals wieder eigene vier Wände.
»Das Angebot richtet sich an ältere und alte Wohnungslose, die seit längerem in Übernachtungshäusern
oder anderen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht waren und die 50 überschritten haben«
, erläutert
Matthias Müller-Findling, Sozialarbeiter vom Ökumenischen Wohnprojekt Quelle e.V.. Der Verein kümmert sich bereits seit
1990 um wohnungslose Menschen und ist seit 1998 in der Garskestraße ansässig. Doch das jetzt aus der Taufe gehobene
Wohnprojekt, hat ein ganz neues und für Leipzig so bisher einzigartiges Konzept. Müller-Findling umschreibt die
Ursprungsintention so: »Wir möchten auch den Menschen, die in ihrem Leben aus ganz verschiedenen Gründen oft
benachteiligt waren, ein würdevolles Altern in einem geeigneten, längerfristigen Rahmen ermöglichen.«
Dass solche Einrichtungen Not tun, ist nicht nur in Leipzig ein Thema. »Bundesweit gibt es inzwischen
Initiativen, die sich mit der Problemstellung ›Wohnungslosigkeit und Alter‹ beschäftigen. In Leipzig
wurde es vor zwei Jahren ganz konkret: Wir haben unter Federführung der Beratungsstelle ›Vier Wände‹
(Sachgebiet Wohnungslosenhilfe des Sozialamtes Leipzig) eine Arbeitsgruppe gebildet, die zunächst einmal alle möglichen
Hilfsgebote für diese Klientel unter die Lupe genommen und geschaut hat, ob diese ausreichen«
, meint der
studierte Theologe und Gerontologe, der vor zehn Jahren zum Ökumenischen Wohnprojekt Quelle e.V. kam.
Schnell wurde den Sozialarbeitern klar: Es gibt zwar jede Menge Einrichtungen und Hilfsangebote, aber keine wird den besonderen Erfordernissen alter wohnungsloser Menschen im vollen Umfang gerecht. Pflegeheime beispielsweise kämen wegen der oft fehlenden Pflegestufe nicht in Betracht. Zudem fänden sich viele Menschen dieser Zielgruppe, im Heim-Alltag nicht zurecht. Bei Angeboten im Bereich des betreuten Wohnens für Senioren stellen zum einen die Kosten aber auch die Sozialisation der Klientel Hindernisse dar. Aber auch die bisherigen Angebote speziell für Wohnungslose waren auf Grund ihrer engen temporären Orientierung ungeeignet.
Eine ganz neue Lösung musste gefunden werden. Das Sozialamt Leipzig, dem die Ausarbeitung der AG »Alte
Wohnungslose«
vorgelegt wurde, gab grünes Licht und Müller-Findling ging in die Spur. Sein erster Weg auf der
Suche nach einem geeigneten Objekt führte den jungen Mann zur Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft. Ein weiterer war
daraufhin nicht mehr nötig, denn er rannte bei dem kommunalen Unternehmen offene Türen ein.
Jens Eßbach, Leiter der
Sozialabteilung bei der LWB, war sofort bereit, zu helfen. Auch Geschäftsstellenleiter Klaus Hochtritt musste nicht
überredet werden, sondern war von der Idee sofort angetan. »Dass das so unproblematisch läuft, hätten wir nicht
gedacht. Umso schöner ist es, dass die Zusammenarbeit mit der LWB - auch über diesen Bereich hinaus - so gut
funktioniert«
, freut sich Matthias Müller-Findling, der sich seit seinem Studium besonders mit der Verbesserung
der Lebenslagen benachteiligter alter Menschen befasst.
Anfang des Jahres einigte man sich auf das PH 6 am Rande Grünaus. Das Gebäude zählt zwar nicht zu den besten Adressen im
WK 8, aber das ist eher von Vorteil, denn andersherum, wie Müller-Findling weiß. Ein Ziel des Projektes ist es nämlich, die
Wohnsituation so normal wie möglich zu gestalten. »In einem Haus, mit anderem sozialen Hintergrund, käme es
schnell zu Konfrontationen«
, ist er sich sicher. Die Bedingungen in diesem Objekt seien jedenfalls optimal für
den Versuch der Integration seiner Klienten. Befürchtungen, das Haus könnte zum sozialen Brennpunkt werden, teilt der
Sozialarbeiter nicht.
»Das wird hier kein betreutes Saufen«
, meint er provokant. »Auf
Initiative und mit Unterstützung der LWB werden wir im ersten Geschoss ein Büro einrichten. An bestimmten Tagen sind dann
Mitarbeiter des Vereins vor Ort und stehen allen Mietern mit Problemen als Anlaufstelle zur Verfügung.«
Damit
könnte die Etablierung des Projektes in diesem Gebäude sogar zur Verbesserung der bisherigen Situation im Haus führen.
Für die Neuzuzüge dürften sich die Lebensumstände in jedem Fall verbessern. Doch bevor die ersten Möbelwagen rollen und
die neuen Bewohner erstmals wieder Weihnachten im eigenen Heim feiern können, ist noch einiges zu tun. Seit Oktober sind
darum fleißige Helfer im Einsatz, die die drei Ein-Raum-Wohnungen und eine Drei-Raum-Wohnung vorrichten. Unter dem Motto
»Wohnungslose helfen Wohnungslosen «
, renovieren vier Männer und eine Frau aus dem Projekt Garskestraße
das neue Domizil ihrer Schicksalsgenossen. Sogar Extra-Wünsche werden dabei berücksichtigt, wie die melonengelbe Wand in
einem der Zimmer beweist. Zuvor musste jedoch der Vermieter selbst Hand anlegen. So wurde die Elektrik neu gemacht und die
Bäder saniert. Drei der vier Wohnungen bekamen sogar ebenerdige, altersgerechte Duschen.
Doch damit nicht genug: In Kürze wird die LWB einen Scheck über 3000 Euro an das Ökumenische Wohnprojekt Quelle e.V.
übergeben - ein Preis, den das städtische Unternehmen für sein zielgruppenorientiertes Vermietungsprojekt im Oktober selbst
bekam und nun quasi an die Basis weiterleitet. »Die Spende ist natürlich großartig. Das Geld werden wir vorrangig
für die Ausstattung des Büros verwenden. Das ist, denke ich, für alle am sinnvollsten. Zum einen ergibt sich damit die
Möglichkeit für uns, der LWB für ihre Unterstützung zu danken. Und nicht zuletzt wollen wir ja langfristig in das Projekt
investieren, um noch vielen Menschen auf diesem Wege helfen zu können. Dafür könnten uns weitere frei werdende Wohnungen im
Erdgeschoss und in der ersten Etage zur Verfügung stehen«
, gibt Matthias Müller-Findling einen Einblick in die
anvisierten Pläne des Vereins. Einfach wird der Weg sicher nicht werden, aber zumindest ist der erste Schritt getan.