Das ist wie wenn man frische Luft holt...
Porträt Hans Lauter, Teil 4
Viel erzählt er nicht über die Zeit, in der er jeden Morgen durchs Lagertor laufen und mit seinen Kameraden die Moore
trocken legen musste. Schilderungen ehemaliger Häftlinge, die ich in Vorbereitung auf unser Treffen gelesen hatte, gaben
mir eine gewisse Ahnung davon, was dieser junge, einst so fröhliche Mensch damals gesehen, erlebt und erlitten haben
mochte, macht meine Neugier vergessen. Meine Frage nach persönlichen Erinnerungen und nach den Härten des Lageralltags
bleibt ungestellt. Moorsoldat ist Hans Lauter jedoch nicht bis zum Ende des Krieges. 1940 kommt er wieder ins Zuchthaus
nach Waldheim zurück. Dieses Mal bleibt ihm die Zellenhaft erspart. Hans Lauter gelangt in die Abteilung für kriegswichtige
Produktion und mit Riesenglück wird er zu deren Gütekontrolleur. »Der alte war ein Freiarbeiter und musste an die
Front. Wegen meiner Mathekenntnisse bin ich sein Nachfolger geworden, obwohl ich von der eigentlichen Aufgabe überhaupt
keine Ahnung hatte. Zum Glück ging nichts schief«
, erzählt Hans Lauter wieder etwas gelöster.
Gemessen an den zurückliegenden Jahren sei es ihm beim letzten Waldheim-Aufenthalt vorgekommen wie in einer Fabrik. Die
Geschichten, die er daraufhin aus seinen Erinnerungen kramt und so lebhaft erzählt, als wären sie soeben erst geschehen,
lassen erahnen, warum ihm diese zweite Haftzeit so erschienen sein mag. Etwa wenn er von der Karte vom Kriegsverlauf
erzählt, die er sich selbst angefertigt hat und von der er annahm, dass Niemand von ihrer Existenz wusste. Bis zu jenem
Tag, als ein Hilfsoberwachtmeister sie sehen wollte. »Da hab ich natürlich Angst bekommen und alles geleugnet.
Aber der wollte sie nur sehen, um sich selbst zu informieren«
, schildert der kleine agile Mann im beigen Anzug,
der sich an eine Begegnung im Zuchthaus besonders deutlich erinnern kann: 1943 oder 44 sei es gewesen, als Gauleiter und
Reichsstadthalter Martin Mutschmann in Waldheim auftaucht und die Zustände begutachtet. »Der Besuch wurde uns
angekündigt und wir wurden belehrt, wie wir uns zu verhalten haben. Wir durften keine Beschwerde an ihn richten, ihn noch
nicht einmal ansprechen und wenn er uns etwas fragte, sollten wir Herr Reichstadthalter zu ihm sagen.«
»Mutschmann kam also und wir arbeiteten alle an unseren Maschinen. Auf einmal klopft er mir auf die Schulter
und - nachdem ich ihm sagen musste, wofür und wie lange ich in Haft bin - fragt: 'Sind Sie denn nun von ihren
Wahnsinnsideen geheilt?' Daraufhin ich: 'Herr Reichsstadthalter, ich kann gar nicht von Wahnsinnsideen geheilt werden, weil
ich niemals an welchen gelitten habe!' Von meinem jüdischen Nachbarn Hans Danker, wollte er provozierend wissen, ob er die
Juden hasse. Dieser zog sich ganz gut aus der Affäre, in dem er sagte, dass er alle ehrlichen und fleißigen Menschen
achte.«
Mutschmann beschwerte sich daraufhin lediglich darüber, dass zwei Politische nebeneinander arbeiteten.
Mittlerweile wächst meine Bewunderung für den jungen Hans Lauter immer mehr und ich vergesse darüber gar mein
Fragenkonzept. Aber eigentlich ist selbiges ohnehin überholt. Denn sein über 60 Jahre älteres Ich, holt immer wieder neue
Geschichten hervor und gibt sie anschaulich preis.
So erfahre ich, wie er - 30-jährig - mit einem Kameraden im Frühjahr 1945 die Flucht aus dem Radebeuler Gefängnis plant,
wo er mittlerweile einsitzt. Minutiös bereiten die beiden Männer ihren Ausbruch vor und es gelingt ihnen, die Freiheit
wieder zu erlangen. »Wie ist es, nach zehn Jahren Haft plötzlich wieder frei zu sein?«
, frage ich ein
wenig einfältig und versuche mir krampfhaft die Situation vorzustellen, was natürlich nicht so recht gelingen will. Hans
Lauter - aus seinen Gedanken gerissen - schaut nachdenklich, ringt selbst nach den geeigneten Worten und findet sie
schließlich: »Das ist wie wenn man frische Luft holt.«
Der erste Weg führt ihn zu Fuß über die Elbe nach
Dresden Stetzsch, wo er von seinem Onkel Geld und etwas zu Essen bekommt. Danach flüchtet er mit der Bahn etwa 45 Kilometer
nach Elsterwerda und findet Unterschlupf auf einem Rittergut.
»Dort war so viel los im Frühjahr 45. Da sind wir gar nicht aufgefallen. Natürlich mussten wir trotzdem
aufpassen, dass sie uns nicht schnappen.«
Einmal da wäre es beinah noch schief gegangen. Als er für einen an TBC
erkrankten Nazi-Funktionär, dem er ähnelt, Essenmarken beim Bürgermeister abholen wollte. Er wird als jener anerkannt, für
volkssturmtauglich befunden, bekommt eine Waffe in die Hand gedrückt und soll - Ironie der Geschichte - Häftlinge bewachen.
Lauter macht sich abermals aus dem Staub und schlägt sich auf Schleichwegen zur Sowjetarmee durch. Dort steht er plötzlich
einem sowjetischen Panzer gegenüber, muss seine Waffe abgeben und wird vernommen.