Editorial
Gemeinschaftsschulen
Liebe Leserinnen und Leser, denken Sie noch manchmal an Ihre Schulzeit zurück? Mit zunehmendem Alter verblassen ja glücklicherweise die unangenehmen Episoden, die sicherlich jeder irgendwie erlebt hat. Was bleibt, sind die schönen Erinnerungen – an den Schulanfang beispielsweise oder aufregende Klassenfahrten, kleine Streiche, legendäre Schuldiskos, tolle Freundschaften, welche nicht selten ein Leben lang halten und, und, und. Ich könnte diese Aufzählung endlos weiterführen. Meine Schulzeit – das waren zehn Jahre in ein- und derselben Einrichtung und mit nahezu denselben Menschen um mich herum. Da kannte man sich in- und auswendig. Meine Mitschüler kamen aus ganz unterschiedlichen Elternhäusern. Sie waren die Kinder von Bauarbeitern, Verwaltungsangestellten und eines gar von einem Uni-Professor. Hat es mir geschadet? Nein, natürlich nicht.
Zugegeben: Wir hatten in der DDR auch keine andere Wahl. Das Modell der Polytechnischen Oberschulen (POS) würde man heute Gemeinschaftsschule nennen. Zu meiner Zeit bedeutete dies, dass zumindest bis zur achten Klasse alle zusammenblieben, bis die besten Schüler zur Erweiterten Oberschule (EOS) wechselten. Dieses System wurde von anderen Ländern, wie beispielsweise Finnland übernommen, was das Land im internationalen Vergleich ziemlich weit nach vorne brachte. War ja nicht alles schlecht in der DDR. Die Verantwortlichen der Bundesrepublik haben im Einigungsprozess das Potenzial des hiesigen, real existierenden Bildungssystems leider nicht erkannt und uns ihres übergeholfen. Seither müssen sich Zehnjährige und deren Eltern entscheiden: Gymnasium oder Oberschule. Mitunter eine Entscheidung fürs Leben.
Da kann es schon einmal passieren, dass ein Kind durch den frühzeitigen Orientierungszwang falsch »einsortiert« wird, sich auf dem Gymnasium quält, dem Leistungsdruck nicht stand hält oder schlicht nicht mehr mitkommt. Ein Wechsel auf die Oberschule ist problemlos möglich, geht aber nicht selten mit einer unangenehmen Versagens-Erfahrung einher. Im umgekehrten Fall könnte sich ein »Spätzünder« doch noch für den höheren Bildungsweg berufen fühlen. Theoretisch hat er oder sie auch später dazu die Chance. Praktisch ist es jedoch kaum zu meistern. Zu unterschiedlich sind bereits ab Klasse 5 die Anforderungen und Lehrpläne. Bliebe am Ende der zweite Bildungsweg mit mindestens einem verschenkten Jahr.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnten die bereits erwähnten Gemeinschaftsschulen bieten. Sie ermöglichen das längere gemeinsame Lernen und sorgen für ein Stück weit mehr soziale Gerechtigkeit im Bildungssystem. Die gerade frisch erschienene Studie ist der beste Beweis dafür, dass dies dringend Not tut. Denn noch immer haben Kinder aus einkommensschwachen Familien nicht die gleichen Chancen auf gute Bildung. Gemeinschaftsschulen gibt es in beinah jedem Bundesland. Nur in Sachsen nicht.
Ein breites Bündnis von verschiedenen Akteuren, Parteien und Initiativen möchte dies ändern und sammelt derzeit Unterschriften für einen entsprechenden Volksantrag. Ziel ist es, dass es im Freistaat künftig jeder Schule selbst obliegt, ob sie eine Gemeinschaftsschule gründet. Will heißen: Es wird auch weiterhin Oberschulen und Gymnasien geben. Die Gemeinschaftsschule käme als neue Option hinzu. Noch bis Mitte November haben potenzielle Unterstützer die Möglichkeit, sich mit ihrer Unterschrift an der Aktion zu beteiligen. Listen liegen unter anderem im Wahlkreisbüro der Linken, in der Stuttgarter Allee 18, oder im KOMM-Haus, Selliner Straße 17, aus. Kommen Sie vorbei!
Klaudia Naceur